Ahnenforschung: Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg

FeldpostkarteZum Jahresanfang bin ich einige Wochen lang in der Zeit des Ersten Weltkriegs verloren gegangen. Schuld daran sind die Briefe meines Urgroßvaters Ludwig, die er 1916 und 1917 aus dem Krieg geschrieben hat. Mein Onkel hat sie 1993 aus der alten Kurrentschrift „übersetzt“ und als kleines Heft gedruckt. Dieses bekam ich ausgeborgt und habe es nun wieder digitalisiert. Dabei habe ich mich tatsächlich ein wenig in der Geschichte verloren, die man aus den Briefen herauslesen kann.

In erster Linie ging es mir darum, diese Geschichte zu bewahren, denn im Moment weiß ich nicht, ob mehr als eine physische Kopie dieses Heftes existiert. Mein Onkel ist vor 12 Jahren gestorben. Irgendwie finde ich den Gedanken schön, dass 12 Jahre nach seinem Tod und über 25 Jahre nachdem er sich diese enorme Arbeit gemacht hat, diese Geschichte weiterlebt. Ich konnte tatsächlich der Versuchung auch nicht widerstehen und habe beim Digitalisieren viele kaum erkennbare SW-Fotos gegen die mir vorliegenden Familienfotos ausgetauscht. Und natürlich kann man viele Dinge heute auch googeln, spezielle Begriffe aus dem Soldatenjargon z.B., was 1993 nicht möglich war. Auf diese Weise sind viele neue Fußnoten entstanden.

Bevor ich diese Briefe gelesen habe, war mein Urgroßvater Ludwig für mich eher zweidimensional. Ich hatte sechs oder sieben Fotos von ihm und ein paar Adresseinträge aus dem Greifswalder Adressbuch, die grob seine Laufbahn als Lehrer nachzeichnen. Hochzeitsdatum, Geburt des ersten Sohnes, dazu jeweils ein Foto. Ein Bild als Offizier, ein Bild als Offizier mit meiner Urgroßmutter. Ein hölzernes Grabkreuz, das seit 100 Jahren auf dem Alten Friedhof in Greifswald steht. Aber wie war er als Mensch? Das Heft enthält 28 Briefe und Postkarten von ihm, von sehr kurzen Feldpostkarten bis zu längeren Briefen. Und ich finde, da kann man doch so einiges herauslesen. Natürlich stammen die Briefe nur aus einem kurzen Ausschnitt seines Lebens und man muss etwas vorsichtig sein, was man hineininterpretiert. An einer Stelle erwähnt er z.B., dass die Briefe eine Zeitlang nur geöffnet abgegeben werden durften. Man kann also annehmen, dass er eine eventuelle kritische politische Haltung in den Briefen vielleicht nicht thematisiert hätte. Es gibt aber genug Stellen, die mir auch in dieser Hinsicht authentisch erscheinen.

Eine spannende Frage wäre für mich gewesen, wieso sich Ludwig freiwillig zu diesem Krieg gemeldet hat. Da die Briefe erst 1916 einsetzen, steht dazu leider nichts drin. Man kann nur spekulieren, ob es der generelle gesellschaftliche Druck gewesen ist oder vielleicht auch die ganz konkreten Erwartungen der Verwandtschaft. Irgendeine Begeisterung für den Krieg kann ich jedenfalls nicht herauslesen, allerdings auch keine allzu große Verachtung dafür. Nach einigem Nachdenken darüber denke ich, dass die Einstellung meines Urgroßvaters zum Krieg am ehesten der zu einem Sportereignis ähnelt. Krieg hatte damals ja eine andere gesellschaftliche Bedeutung, und Ludwig schildert das alles so, wie man die Angriffe und Aktionen einer gegnerischen Mannschaft schildern würde. Hass oder Verachtung für Russen oder Franzosen kommt nicht vor, aber auch kein übermäßiges Mitleid mit den Gefallenen. Er lehnte Krieg nicht aus Prinzip ab. Er schreibt allerdings auch:

Es ist doch eine eiserne Zeit, man wird steinhart und gegen alles gleichgültig.

Es ist für mich tatsächlich schwer vorstellbar, was er in seinen zweieinhalb Kriegsjahren erlebt haben muss und was das mit ihm gemacht haben muss. Der erste erhaltene Brief stammt immerhin aus einer Zeit, als Ludwig schon einige Monate an der Ostfront hinter sich hatte. In gewisser Weise fühle ich mich ihm vielleicht auch verbunden, weil wir an recht ähnlichen Punkten im Leben sind. Ludwig zog mit 35 Jahren in den Krieg. Er hatte einen Beruf, war verheiratet und hatte einen vierjährigen Sohn. Ich bin jetzt 40, habe einen Beruf, bin verheiratet und habe eine elfjährige Tochter. Es braucht also nicht so viel Fantasie, um sich in seine Lebenssituation hineinzufühlen.

Was steckt nun in den Briefen? Vieles sind tatsächlich alltägliche Details. Ludwig schildert seinen gesunden Appetit und bedankt sich immer wieder für unzählige Essenslieferungen. Mir war bisher gar nicht klar, wie viel Post da hin- und herging und was man alles verschicken konnte. Seine Ehefrau aber auch deren Tanten haben ihn mit Leberwurst versorgt, mit Butter, Honig, Schinken, Eiern, Waffeln, Kuchen, Kakao und noch vielem mehr. All das zeichnet das Bild eines ruhigen, aber durchaus lebenslustigen Menschen. Gleichzeitig war Ludwig mit 36 Jahren schon nicht mehr jung, und große Besäufnisse und Ausschweifungen scheinen nicht so sein Ding gewesen zu sein. Stattdessen geht er in ruhigen Tagen auch schon mal ins Theater (im vollen Bewusstsein, wie absurd das ist, während einige hundert Kilometer entfernt seine alte Einheit im Kampfeinsatz ist) oder ins Kino (mit der Regimentskapelle – ich musste kurz nachdenken, bis ich verstand, dass das ein Stummfilm gewesen sein muss).

Was mich ansonsten überrascht hat, war der Pragmatismus, der immer wieder durchscheint. Das scheint mir auch viel deutlicher ausgeprägt gewesen zu sein als jeglicher Nationalismus. Wenn ihm in Russland der Unterstand im Regen weggespült wird, erträgt er das nicht für Vaterland und Kaiser, sondern geht in den leeren Nachbarunterstand und holt sich an Brettern, was er kann, bevor es auffliegt. Die Kameraden, die da nach ihm einziehen sollen, tun ihm zwar leid, aber das eigene Überleben ging vor. Dabei hatte er wohl auch das Bild seines Schwagers vor Augen, der 1915 während seiner Offiziersausbildung an einer Lungenentzündung gestorben war. Solche kleinen Episoden des Ungehorsams werden immer mal wieder geschildert, genau wie er auch erwähnt, dass er sich nicht drum reißt, auf Patrouille zu gehen, solange es andere Freiwillige gibt, weil er lieber heil nach Hause kommen möchte.

Auch witzig ist, wie er immer wieder auf Vorgesetzte und Offiziere schimpft, die seine Einheit mit ellenlangen Befehlen traktieren oder ohne Kenntnis vor Ort hereingerauscht kommen, irgendwas anordnen und wieder abrauschen. Ein sehr schönes Zitat von Mitte 1917:

Wir wurden hier überhaupt wenig von Vorgesetzten belästigt, was wir mit größtem Dank hinnehmen. Wir schaffen so mehr. Noch wird ja immer befohlen, eigensinnig kurz befohlen, ohne daß man vorher mal Fühlung genommen hätte mit den Unterführern u. die beste Weise zu arbeiten überlegte. Ich habe so die leise Hoffnung, daß sich diese Weise, die sehr viel überflüssige Unlust schafft, angesichts der „Demokratisierung“ mal überleben wird.

Gleichzeitig ist er seit 1917 selber Offizier und schimpft an anderer Stelle auch über die jungen Soldaten, die nicht mitdenken, kaum zu motivieren sind etc. Ich glaube, hier kommt der Lehrer sehr deutlich durch. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass ihn das durchaus zu einem guten Offizier gemacht hat. Politisch scheint Ludwig durchaus modern eingestellt gewesen zu sein, z.B. im Unterschied zu seinem Schwiegervater. Über den Inhalt der deutschen Zeitungen machte er sich jedenfalls keine Illusionen. Ich erwähnte ja schon in einem vorhergehenden Beitrag, dass die Diskrepanz zwischen den Jubelschlagzeilen der Tageszeitung und den tatsächlichen Kriegsereignissen interessant ist.

Was in den Briefen ebenfalls sehr deutlich wird, ist wie sehr meinem Urgroßvater die Familie wichtig war. Wie stolz er auf seinen kleinen Sohn war, aber auch wie wohl er sich mit den Schwiegereltern und der erweiterten Verwandtschaft gefühlt hat. Seine eigene Familie wird auch immer mal erwähnt, so bittet er etwa darum, seiner Mutter etwas Geld zu schicken. Aber wohler gefühlt hat er sich wohl in der Familie, in die er eingeheiratet hat. Insbesondere eine Tante wird immer wieder erwähnt, und sie scheint mir ein spannender Charakter gewesen zu sein („Und was Tante Wanda wohl wieder ausheckt! Weißt Du, ich halte doch recht viel von ihr.“). Über sie würde ich auch gerne mehr erfahren.

Natürlich kommt auch der Krieg immer wieder vor. Mein Urgroßvater war allerdings in einem Reserve-Regiment, so dass er nicht durchgehend zwei Jahre an der Front war. Zwischendurch gab es auch Monate der Offiziersausbildung in Deutschland. Trotzdem werden hier auch viele Details geschildert. Ich hatte ja erwähnt, dass mir Ludwig ein pragmatischer Mensch gewesen zu sein scheint und dass mich die Schilderungen des Krieges an ein Sportereignis erinnern. Aus seiner Zeit in Russland habe ich nur wenige Briefe, aber später war er in Frankreich und Belgien. Aus dieser Zeit wird immer wieder erwähnt, dass man sich nicht unnötig beschießt. Es scheint da viel Verständnis füreinander gegeben zu haben („Heute morgen sind 500 m links von uns 4 Frz. übergelaufen. Die mögen auch nicht mehr.“). So signalisierte man sich schon mal, wenn Offiziere zur Inspektion kamen, damit der Gegner mit Graben aufhören und abtauchen konnte. Denn wenn der Vorgesetzte daneben steht, müsste man ja schießen. Es gab Warnungen vor Angriffen, per Ballon ausgetauschte Zeitungen etc. Auch mit den französischen und belgischen Zivilisten, bei denen die Soldaten hinter der Front teilweise einquartiert waren, hat man sich wohl gut verstanden (ob die das auch so gesehen haben, sei dahingestellt).

Über Ludwigs Einstellung zum Krieg habe ich viel nachgedacht und denke, das hängt auch mit der Zeit zusammen, in der mein Urgroßvater aufgewachsen ist. Er kam 1880 auf die Welt. Wenn ich gerade nichts wichtiges vergesse, dann war der letzte echte Krieg für das Deutsche Reich der Krieg gegen Frankreich 1870/71. Der dauerte so etwa ein halbes Jahr, und Ludwig hat sich in seiner Kindheit sicher viele glorreiche Geschichten dazu anhören müssen. Ansonsten war Krieg während seiner Jugend doch eher eine Sache, die in Übersee stattfand. Es macht also durchaus Sinn, dass man sich 1914 einfach nicht vorstellen konnte, was für unfassbares Grauen dieser Krieg beinhalten würde. 1916 ging der Krieg ins zweite Jahr, und sicher fragten sich viele, wie lange das denn noch gehen sollte. Im Sommer 1917 äußert Ludwig mehrmals, dass er hoffe, der Krieg sei in wenigen Monaten beendet. Man spürt dann auch das Entsetzen in den Briefen, als auf Druck der Armee der Reichskanzler gegen einen kriegsfreudigeren ausgetauscht wurde und klar wurde, dass es auch 1917 im Winter noch weitergehen würde.

Diese Briefe sind auch deswegen keine einfache Lektüre, weil ich anhand der Lebensdaten weiß, wie die Geschichte ausging. Ludwig starb 1917 in Flandern während einer britischen Offensive bei Ypern. Ich habe zur dritten Flandernschlacht einiges gelesen, und die Verbindung der nüchternen Fakten aus der Wikipedia mit den ganz persönlichen Briefen von der Front macht diese Geschichte sehr nachvollziehbar aber auch sehr traurig. Wikipedia sagt u.a.:

Nachdem General Douglas Haig die Entscheidung bereits in der Schlacht bei Cambrai suchte, stellte die britische Führung die Offensive im Raum östlich Ypern am 10. November ein.

Genau dort starb mein Urgroßvater, am 10. November. Wenn man so liest, was für wenige Kilometer Geländegewinn an Menschenleben geopfert wurde, kann man es kaum glauben. Nur wenige Monate später hat die deutsche Armee das zerbombte Niemandsland zurückerobert, nur um es dann erneut zu verlieren. Noch ein ganzes Jahr ging der Wahnsinn weiter und hat am Ende nicht allzuweit entfernt noch einen anderen Urgroßvater von mir verschlungen. Mehr als jede individuelle Tat einzelner Soldaten erscheint mir deswegen das Fortführen dieses Krieges ein riesiges Verbrechen gewesen zu sein. Ich kann mir kaum vorstellen, was irgendjemand im Sommer 1917 noch dachte, dadurch gewinnen zu können. Klar, man wollte sein Gesicht nicht verlieren. Aber wenn man eine Million Tote überschritten hat, kann man dann nicht mal zugeben, dass das nichts tolles mehr bringen wird? Auch mein Urgroßvater machte sich da im Mai 1917 keine Illusionen. In Bezug auf seinen Sohn schrieb er:

Dafür, daß er nicht zuviel Geld und reichlich Arbeit hat, wird der Weltkrieg schon sorgen.

Für mich waren das einige spannende Wochen. Ich habe mich ins Lesen der Kurrentschrift eingearbeitet, um das ein oder andere Dokument entziffern zu können, habe in den Original-Zeitungen von 1910 bis 1920 geschmökert und habe viel über die Zeit des Ersten Weltkrieges gelesen. Ich weiß auch von mehreren anderen Vorfahren, dass sie im Ersten Weltkrieg kämpften, aber von keinem sind mir so genaue Schilderungen und so viele Details bekannt. Mein Urgroßvater starb über sechzig Jahre vor meiner Geburt und es lebt seit bestimmt dreißig Jahren niemand mehr, der ihn noch kannte. Trotzdem habe ich nun das Gefühl, ihn ein wenig zu kennen. Die Fotos von ihm sind nicht mehr einfach nur irgendwelche Fotos.

Alles in allem bin ich froh, dass diese Briefe erhalten geblieben sind und dass sich mein Onkel die Mühe gemacht hat, sie zu entziffern. Und wow, das muss Arbeit gewesen sein! Kurrentschrift ist immer schwer zu lesen, aber die Feldpostkarten wurden wahrlich nicht in Schönschrift verfasst. Irgendwann wird vielleicht mal meine Tochter in diesen Briefen schmökern oder die Kinder meiner vielen Cousins und Cousinen. Und es ist immer tröstlich zu wissen, dass von einem Leben mehr übrig bleibt als nur die Daten auf einem Grabstein.

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)