Nein, heute geht es nicht um die Art Brief aus der Vergangenheit, auf die man bei der Familienforschung stoßen kann. Sondern um Post von mir selber, von vor 23 Jahren. Ich habe heute mal auf der Festplatte in dem Ordner mit Briefen gestöbert, die ich geschrieben habe. Und weil ich schon lange nur sehr wenige Briefe schreibe, sind sehr viele von ihnen von vor 2005. Diesen hier habe ich an meinen Opa geschrieben, und zwar auf den Tag genau vor 23 Jahren, am 09.10.2000!
Lieber Opa Heinz!
Wie Du siehst, schreibe ich Dir diesen Brief aus Leipzig. Hier gleich einmal meine neue Adresse: […]
Dann will ich mal ein bißchen was erzählen. Letzten Montag früh ging der Umzug los, wir hatten uns von Bekannten einen kleinen Lieferwagen gemietet und damit meine Sachen nach Leipzig gefahren. War zwar nur das Nötigste, aber da kommt schon ganz schön was zusammen. Immerhin, wir haben den Umzug gut geschafft, sogar noch die Frist des Hausmeisters auf die Minute genau eingehalten und bis Mitternacht hatte ich dann mein Wohnheimzimmer so ziemlich eingerichtet. Ist wirklich hübsch hier. Das Wohnheim ist renoviert und die Zimmer sind mit ordentlichen, neuen Möbeln ausgestattet. Ich habe ein Einzelzimmer, teile mir aber Küche und Bad mit zwei anderen Zimmern. So auf den ersten Blick machen die Mitbewohner auch einen vernünftigen Eindruck. Damit werde ich also hoffentlich klarkommen.
Bleibt nur noch die Frage, wie ich mich im Studium anstelle. Das werde ich diese Woche herausfinden können. Bisher hatte ich hier völlig freie Zeit, was ich mal wieder dazu genutzt habe, bis spät in die Nacht zu lesen und dann ewig zu schlafen. Wenigstens habe ich die ganzen Formalitäten erledigt, Einwohnermeldeamt und so. Dazu war die Woche recht gut.Und ich war einkaufen und habe diesen Haushalt mit dem Nötigsten ausgestattet. Man muß ja nun plötzlich alles selber machen und dafür braucht man auch eine ganze Menge Sachen. Lustig ist nur, daß einer meiner Mitbewohner schon seit zwei Jahren hier lebt, aber es nicht mal einen Mülleimer, ein Kehrblech oder gar einen Besen gab. Wenn da nicht Mitbewohner Nr. 2 soviel mitgebracht hätte, sähe es hier düster aus. Aber ich habe mich hier nun schon gut eingerichtet.
Telefon habe ich hier bis jetzt leider noch nicht. Da ist das Handy, das mein Cousin mir vor kurzem geschenkt hatte, ein echter Segen! Das Handy ist zwar schon älter, aber es ist einfach gut, erreichbar zu sein. Ich bin hier ansonsten nämlich so ziemlich abgeschnitten, da ich meinen Internet-Anschluß leider auch erst nächsten Monat bekomme, die Anmeldung braucht etwas Vorlauf. Das stellt mich Internet-verwöhnten Menschen auf eine ganz schöne Belastungsprobe. Zum Glück habe ich um die Ecke ein kleines Internet-Cafe entdeckt, wo ich wenigstens mal ein paar eMails schreiben kann. Man kann sich aber wirklich dran gewöhnen, jeden Tag seinen Freunden und Bekannten zu schreiben, und das fehlt mir nun etwas. Dafür habe ich mich am Wochenende schon mit einigen Leuten getroffen, die ich hier in Leipzig über diverse Wege schon kenne.
Wie ich Dir ja schon geschrieben hatte, habe ich mich vor gut drei Wochen an der „ Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur“ (einer Fachhochschule) immatrikuliert. Die liegt draußen in Connewitz, und glücklicherweise habe ich fast nur Unterricht in relativ nahen Gebäuden. Nur einmal in der Woche muß ich mich für den Physik-Unterricht zu einem weiter weg gelegenen Institut der HTWK begeben.
Heute jedenfalls ging dann das Studium mehr oder weniger offiziell los. Erstmal gab es heute nur eine ganz kleine Einführungsveranstaltung, deren sinnvoller Kern darin bestand, sich hinterher einen Stundenplan vom richtigen Stapel zu nehmen. Aber immerhin, es geht los.In meinem Studiengang sind wir 118 Leute (mit einer relativ geringen Frauenquote), und ich bin echt gespannt auf das Studium. Ansonsten finde ich mich bisher in Leipzig gut zurecht. Das Wohnheim ist halbwegs günstig gelegen, etwa auf halbem Weg zwischen Fachhochschule und Stadtzentrum, so daß ich auch schnell mal in die Stadt kann. Ich bin hier direkt zwischen den Fakultäten für Chemie und Physik, und nebenan ist ein riesiger Klinikkomplex, den Du vielleicht noch von früher kennst. Wenn es nicht gerade regnet, fahre ich viel mit dem Fahrrad, die Straßenbahn habe ich heute das erste Mal in dieser Zeit benutzt. Bis zur FH sind es auch nur gut 15 Minuten mit dem Rad, was sich bei gutem Wetter ohne weiteres machen läßt. Nur im Winter werde ich wohl auf die Straßenbahn ausweichen müssen.
Morgen fängt der Ernst des Studiums dann an, wenn auch erstmal ganz vorsichtig mit einem einzigen Seminar. Aber es ist Algebra, und das wird wohl ein erster Test, ob ich hier völlig falsch bin oder nicht.
Erstmal jedenfalls kommt viel Theorie auf mich zu, Mathe, Physik und jede Menge Grundlagen der Informatik. Ich bin aber, nachdem bisher alles so gut geklappt hat, recht zuversichtlich, daß ich mich mit etwas Arbeit hindurchfinde.
Ich habe diesen Brief gerade zum vielleicht ersten Mal in 23 Jahren gelesen. Sicher jedenfalls in einer langen Zeit. Es ist schwer zu beschreiben, wieso ich ihn so faszinierend finde. Nostalgie ist auch dabei, aber allein trifft es das nicht. Ich glaube, unter anderem staune ich ein bisschen über dieses Gefühl von Aufbruch und Optimismus, das für mich aus den Zeilen hervorscheint. Ich war damals 19, hatte gerade ein Jahr Zivi hinter mir und das Studium vor mir. Heute bin ich 42 Jahre alt, und das ist alles so lange her, dass ich mich an viele Details nicht mal mehr erinnern kann. Aber die Studienzeit habe ich größtenteils in guter Erinnerung. Die vorsichtige Nervosität, ob ich dort richtig sein würde, hat sich als unbegründet erwiesen. Das Studium habe ich gut geschafft und 2005 als Diplom-Informatiker (FH) abgeschlossen. All die vielen Jahre später arbeite ich immer noch als Software-Entwickler, und das gerne.
Was mir heute manchmal abgeht ist die Begeisterung und der Optimismus von damals. Hab ich das wirklich so empfunden oder steht es nur in diesem Brief? Ich weiß, dass mir bei weitem nicht alles immer leicht gefallen ist damals und dass das erste Jahr in Leipzig auch ein ziemlich einsames Jahr war. Mein damaliges Ich wusste ja noch nicht, dass ich vier Wochen vorher bereits meine zukünftige Frau getroffen hatte. 🙂 Na, jedenfalls wünschte ich mir heute manchmal, dass sich das Leben wieder etwas leichter anfühlen würde. Dass es weniger aus Stress und Gemecker und Negativität besteht und mehr aus Spaß und einfach mal schauen.
Das hat natürlich auch mit dem Alter zu tun. Mit 19 tut einem nichts weh, wenn man aufwacht, und zur Not reichen zwei, drei Stunden Schlaf vor der Vorlesung und man hat trotzdem noch einen halbwegs produktiven Tag. Die Verpflichtungen hielten sich in Grenzen, es standen keine Elternabende (oh Entschuldigung, „Klassenpflegschaftssitzungen“), Eigentümerversammlungen oder Steuererklärungen auf dem Programm, und keine Haustiere wollten mehrmals am Tag Futter. Liebe Neunzehnjährige: Genießt das, so lange ihr könnt!
Der Brief ist jedenfalls in vielerlei Hinsicht eine Zeitreise in eine ganz andere Zeit. Die Rechtschreibreform war da schon ein paar Jahre alt, aber ich hatte mich dem noch verweigert und ich glaube auch nicht, dass Bücher damals schon flächendeckend in der neuen Rechtschreibung erschienen sind. Heute kann ich nicht mal mehr sagen, wann ich von „daß“ zu „dass“ gewechselt bin. Und ja, man schrieb das damals „eMail“.
An Leipzig als Studienstadt habe ich nur die besten Erinnerungen. Es war einfach ein schöner Ort zum leben. Groß genug, dass man alle Möglichkeiten hatte, aber keine Metropole, die einen erdrückt. Ich hoffe, dass sich das Leben dort noch immer so anfühlt. In meinem Wohnheimzimmer in der Philipp-Rosenthal-Str. bin ich tatsächlich die ganze Studienzeit hindurch geblieben, weil es da so gemütlich war (verglichen mit anderen Wohnheimen, die ich gesehen habe).
Dass ich die ersten Wochen ohne Internet verbringen musste, war für mich sicher hart. Internet war zwar etwas brandneues, aber ich war auch in Greifswald schon per Modem online gewesen und habe mich über Mailinglisten mit Leuten ausgetauscht. Wochenlang offline sein ist ja auch heute nichts unbekanntes, wenn beim DSL-Anschluss mal was hakt. Aber: Damals war man dann wirklich offline, während man heute halt einfach mobil surft und zur Not das mobile Internet auf den Rechner durchstellt. Zum Mails schreiben ins Internet-Café gehen – das glaubt einem doch heute auch keiner mehr. 😉
Auch spannend: Mein erstes Handy! Das hatte ich schon fast vergessen. Das war ein relativ riesiger Knochen, schwer genug dass man es gar nicht immer mit sich rumtragen wollte. Ich weiß noch, dass ich da auch nicht zwangsläufig jeden Tag draufgeschaut habe und dann von Freunden angemeckert wurde, wenn ich ihre Nachrichten erst mit Tagen Verzögerung gesehen habe. Später habe ich mir dann ein Siemens SK65 geholt (die ergoogelten Bilder sehen zumindest so aus, keine Ahnung, ob es genau das Modell war), bei dem man die Rückseite drehen und damit eine Tastatur ausklappen konnte. Goodbye T9, plötzlich machte SMS schreiben auch Spaß.
Das alles ist nun ein halbes Leben lang her. So vieles hat sich geändert, aber manches bleibt auch gleich: Wenn man mich mir selbst überlässt und etwas mich fasziniert, bin ich im Zweifelsfall um 01:30 Uhr morgens noch wach. Insofern muss ich jetzt mal mein jüngeres Ich beiseite legen, an mein Ich von morgen denken und für heute Schluss machen. 🙂 Liebe Grüße gehen aber noch raus an alte und neue Leipziger Freunde!
Hi JR!
Ja, das Jahr 2000 war schon ein spannendes Jahr: Paris, der Umzug nach Leipzig, Deine Freundin, die jetzt Deine Frau (und für mich eine liebe Freundin) ist,… 🙂 Teilweise habe ich das ja miterlebt, einiges hautnah, einiges aus der Ferne. Und noch heute sind wir sehr gute Freunde. Aus dieser Zeit bringen wir einiges mit, das überdauert, egal wie alt wir werden (bei mir überdauert sogar noch das „daß“ :-D). So wie ich Dich damals kennengelernt habe, hattest Du schon damals einen kleinen Hang zum Pessimismus und diesen bis heute behalten, aber Du gleichst es wunderbar durch Deinen Mut zu Neuem aus. Mögen die nächsten 20 Jahre genauso spannend werden!
LG,
Kaineus.