Mary Gentle: Ash – A Secret History

Cover AshRezension zu „Ash – A Secret History“ von Mary Gentle, Ersterscheinung: 2000 (UK), Victor Gollancz London, 1113 Seiten

Inhalt

Der Roman beginnt mit einem Buch im Buch: „Ash – A Lost History of Burgundy“ von Dr. Pierce Ratcliff. Dr. Ratcliff hat einen historischen Text entdeckt, das Fraxinus-Fragment, und zusammen mit anderen Dokumenten hat er daraus die Lebensgeschichte der mittelalterlichen Söldnerin Ash geschrieben. Diese Geschichte wird uns nun präsentiert, immer wieder unterbrochen von Korrespondenz zwischen Dr. Ratcliff und seiner Verlegerin Anna Longman.

Ashs Geschichte beginnt im Jahr 1465 im Lager der Söldner-Kompanie Griffin-in-Gold. Ash ist eins der Kinder, die im Tross des Lagers leben. Sie kennt ihre Eltern nicht. Ash ist acht Jahre alt, als sie vergewaltigt wird – und zum ersten Mal tötet. Seit diesem Tag hat sie zwei lange Narben auf der Wange, die zusammen mit ihren langen weißblonden Haaren (wegen derer man ihr den Namen Ash gab) zu ihrem Markenzeichen werden. Als sie zehn ist, hört sie zum ersten Mal eine Stimme, direkt in ihrem Kopf. Ash schreibt diese Stimme dem mythischen Löwen, der von einer Jungfrau geboren wurde, zu. Die Stimme beantwortet ihr jede taktische Frage; sobald Ash eine Kampfsituation beschreibt, erhält sie als Antwort darauf die beste Vorgehensweise um den Kampf zu gewinnen.

Die Geschichte springt in den Sommer 1476: Ash ist 19 Jahre alt und hat seit mehreren Jahren ihre eigene Söldner-Kompanie, die Lion-Azure-Kompanie. Sie ist eine Kämpferin durch und durch und hat über achthundert Männer und Frauen unter ihrem Kommando fest im Griff. Die unzähligen Schlachten gewinnt sie nicht zuletzt durch die Ratschläge, die ihr die ‚Stimme des Löwen‘ gibt. In diesem Sommer wird Ashs Kompanie von Friedrich III. bezahlt, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Während Friedrichs Truppen die burgundischen Truppen belagern, welche wiederum die Stadt Neuss belagern, lernen wir Ashs Truppe kennen: ihren Stellvertreter Robert Anselm, den Doktor Florian, den Kanonier Angelotti, die Lanzen-Anführer Thomas Rochester, Euen Huw und Josclyn van Manders, den Priester Godfrey Maximillian, Geraint ab Morgan, den Sergeant der Bogenschützen…

Doch mit den Ereignissen bei Neuss ändert sich Ashs Leben, langsam aber grundlegend: Sie wird in die Politik hineingezogen, erfährt die wahren Hintergründe der Stimme, die sie hört, und steht schließlich einer ungeheuren Gefahr gegenüber. Die Heere Karthagos fallen in Europa ein und brandschatzen sich einen Weg auf ihr Ziel zu: das Herzogtum Burgund. Und Ash erfährt bald mehr über ihren eigenen Ursprung, ihre Stimme, darüber welche übernatürlichen (oder besser gesagt, künstlich geschaffenen) Kräfte hinter der Invasion der Visigoten stecken und (viel später) wieso diese Kräfte unbedingt Burgund zerstören wollen. Und bald geht es um weit mehr als darum, eine Schlacht zu gewinnen oder einen Krieg zu verlieren…

Bewertung

Cover zu 'Ash Band 1'„Ash“ ist ein ungewöhnliches Buch, in erster Linie ungewöhnlich gut. Klassifizieren lässt es sich schlecht, und die Bastei-Lübbe-Ausgabe bezeichnet es auf dem Cover zurecht als „phantastische Literatur“ und nicht als SF oder Fantasy. In erster Linie ist Ash ein exzellent geschriebener und recherchierter Historienroman. Das Buch spielt an der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, und da es sich hauptsächlich im Umfeld von Söldnern bewegt, erfahren wir eine Menge über deren Leben. Hat man sich durch dieses Mammutwerk durchgearbeitet, kennt man jeden Teil einer Rüstung namentlich, weiß wie ein Söldnerheer organisiert ist und tausend andere historische Details. Die britische Autorin Mary Gentle schüttelt all diese Schilderungen nicht einfach so aus dem Ärmel, vielmehr hat sie in dieser Richtung studiert: 1985 schloss sie ein Studium der Anglistik, Politikwissenschaft und Geographie an der University of Bournemouth mit einem B.A. ab, 1988 machte sie einen M.A. in Anglistik und Geschichtswissenschaft mit Schwerpunkt 17. Jahrhundert am Goldsmith’s College. Und schon als Vorarbeit für diesen Roman kann man ihren Master in Kriegswissenschaft zählen, den sie 1995 am Kings College machte. Man darf also davon ausgehen, dass die Schilderungen in „Ash“ historisch akkurat sind.

Und Mary Gentle beschränkt sich nicht nur bei historischen Details auf Genauigkeit: Das Buch erzählt von Söldnern, Soldaten und Kriegen, und mit ihren Schilderungen ist die Autorin wahrlich nicht zimperlich! Das harte Leben eines Kindes in einem Söldnerlager schildert sie ebenso schonungslos wie die blutigen Details eines Kampfes oder die Details einer Hochzeitsnacht. Da gibt es keine verklärte Romantik, statt dessen wird das F***-Wort durchschnittlich dreimal pro Seite benutzt. Die Dialoge der Söldner sind auf einem entsprechenden Niveau angesiedelt, das muss man vertragen können.

Womit hat man es nun bei „Ash“ zu tun? Den historischen Aspekt hatte ich ja erwähnt, und auch wenn sich die Geschichte später verändert, mehr SF-lastig wird, bleibt dieser Aspekt erhalten: Die historische Atmosphäre ist bis zur letzten Seite der Vergangenheitshandlung spürbar. Eingerahmt ist die Geschichte ja, wie erwähnt, durch die Korrespondenz von Dr. Ratcliff mit seiner Verlegerin, in der er Details seiner Übersetzungen bespricht. Dr. Ratcliff hat an den Text auch immer wieder Anmerkungen geschrieben, in denen er auf historische Ungenauigkeiten des übersetzten Manuskriptes hinweist oder das ein oder andere als mythisch-verbrämte Erfindung des ursprünglichen Autors abtut. Das schafft zu Anfang eine ganz eigentümliche Atmosphäre der Authentizität, die Abweichungen von „Ash“ zur realen Geschichte erklärt zu bekommen. Doch schon bald wachsen diese Abweichungen weit über einige verkehrte Jahreszahlen hinaus: In den Ash-Manuskripten wird ein Visigoten-Imperium in Nordafrika erwähnt, dass es dort im 15. Jahrhundert auf keinen Fall gab. Karthago existiert noch und startet eine Invasion Europas, welche in keinem Geschichtsbuch steht. Ash begegnet steinernen Golems und schließlich sorgen geheimnisvolle Kräfte für eine Sonnenfinsternis – monatelang.

Die Korrespondenz von Ratcliff und Longman verändert sich, aus reiner Ergänzung des Textes wird ein Teil der Handlung: Dr. Ratcliff sucht Erklärungen für die Abweichungen zur bekannten Geschichte bzw. Beweise für die Richtigkeit der Behauptungen in den Manuskripten. Anna Longman findet derweil ein weiteres Manuskript, das Ashs Geschichte weitererzählt, und schließlich wird offenbar, dass die Abweichungen zwischen den Ash-Manuskripten und der realen Geschichte kein Fehler in den Manuskripten sind. Vielmehr hat sich die Geschichte verändert, und sie verändert sich noch immer…

Mehr will ich nicht verraten. Die Auflösung selber ist interessant, wird aber vielleicht nicht jedem gefallen. Sie kommt IMHO auch ein wenig plötzlich daher, passt nicht ganz zum überaus detailliert erzählten Rest der Geschichte. Aber ganz ehrlich: Für mich war das auch keineswegs der Hauptgrund für die Faszination von „Ash“. Vielmehr lebt dieses Buch vom Schreibstil der Autorin und von den Charakteren. Mary Gentle schreibt sehr detailliert, ein einziger Tag kann schon mal 50 Seiten einnehmen. Dabei entwickelt sie aber soviel Atmosphäre und Spannung, dass das keineswegs stört. Und sie schafft etwas ganz Erstaunliches: Sie erweckt die Charaktere wirklich zum Leben. Und derer gibt es nicht wenige, die kleine Aufzählung weiter oben sind nur die wichtigeren und nur die aus Ashs Truppe. Sie alle wachsen einem irgendwie ans Herz und die Flut der Namen führt keineswegs zu Verwirrung. Wenn der ein oder andere im Laufe des Buches stirbt, gewöhnt man sich genauso schnell an dessen Nachfolger. Und das verleiht dann auch dem Roman einen Gutteil der Spannung: Nicht so sehr die Rahmenhandlung als vielmehr die Frage, wie die Charaktere aus den jeweiligen mehr als prekären Situationen wieder herauskommen. Obwohl natürlich auch die Rahmenhandlung für Spannung sorgt, denn diese anfangs noch sehr subtilen Abweichungen zur realen Geschichte sind mit viel Phantasie erdacht. Mein persönlicher Favorit ist der „Green Christ“, der den ganzen Roman über für Flüche herhalten muss und dessen Geschichte erst auf Seite 8xx erzählt wird.

Ebenfalls sehr spannend fand ich die Rolle Burgunds in der Geschichte. Burgund und speziell die Ereignisse des Jahreswechsels 1476/1477 haben mich schon früher interessiert. Karl der Kühne regierte als Herzog Burgunds über eines der mächtigeren Reiche in Europa (wenn er auch theoretisch der Souveränität des französischen Königs unterstand), welches sich von Burgund bis zu den Niederlanden erstreckte. In unserer Geschichte starb Karl der Kühne am 5. Januar 1477 nach wochenlanger Belagerung der lothringischen Hauptstadt Nancy, als ein lothringisches und schweizerisches Heer die Belagerer angriff. Karls verstümmelter Körper wurde erst nach Tagen entdeckt, und ohne einen männlichen Erben hatte sein Reich nicht lange Bestand. Seine Tochter Maria herrschte noch fünf Jahre bis zu ihrem Tod über Burgund, danach erklärte der französische König das Herzogtum Burgund zu Kronland, während Marias Mann, ein deutscher Kaiser aus dem Haus der Habsburger, die Freigrafschaft und die Niederlande bekam. Burgund verfiel in kürzester Zeit von einem der großen Machtfaktoren in Europa in die Bedeutungslosigkeit (außer für Weinkenner vielleicht) – und „Ash“ liefert uns den Grund dafür. 🙂

Cover zu 'Ash Band 1'Kurz etwas zu den verschiedenen Ausgaben: Ich habe das englische Original gelesen. Sprachlich ist es exzellent geschrieben, aber man muss mit vielen militärischen Begriffen zurechtkommen (was im Deutschen aber auch so sein dürfte). Da der Roman in Großbritannien in einem einzigen Buch mit sagenhaften 1113 Seiten erschienen ist, mit eher kleiner Schrift, hat man daran wirklich was zu lesen. Ich habe sechs Monate gebraucht…

In Deutschland hat Bastei-Lübbe eine sehr schön gestaltete Hardcover-Taschenbuch-Ausgabe in vier Bänden herausgebracht. Äußerlich machen die wirklich was her, die Schrift ist auch größer und man kriegt die Geschichte auf Deutsch. Zur Qualität der Übersetzung kann ich allerdings nichts sagen. Der einzige optische Mangel ist die Gestaltung der Korrespondenz von Dr. Ratcliff, welche im Original viel schöner daher kommt (die E-Mails z.B. stilgerecht in einer Monospace-Schriftart etc.). Die vier deutschen Bände sind zusammen natürlich auch teurer als der eine englische Band, aber das ist leider die einzige Art wie deutsche Verlage sowas herausbringen können ohne draufzuzahlen. Zudem lassen sich die kleineren Taschenbücher viel leichter handhaben, die große und schwere englische Ausgabe macht einem das Lesen in der Beziehung nicht unbedingt leicht und ist als Paperback auch nicht besonders widerstandsfähig, wenn man sie zum Lesen mal irgendwohin mitnehmen will.

Fazit

„Ash – A Secret History“ ist ein faszinierendes Buch, das von der spannenden Geschichte genauso lebt wie von den lebendigen und glaubwürdigen Charakteren. Die Geschichte ist in erster Linie ein faszinierend geschilderter historischer Roman, mit im Laufe des Buches zunehmendem SF/Fantasy-Einschlag und einer eher wissenschaftlich angelegten Auflösung. Wer es lesen möchte, muss einiges an Zeit mitbringen, wird aber mit einer phantasievollen und genial geschriebenen Geschichte belohnt.

Infos

Für „Ash – A Secret History“ wurde Mary Gentle im Jahr 2000 mit dem British Science Fiction Award und dem Sidewise Award for Alternate History ausgezeichnet.

In den USA erschien „Ash“ in vier Bänden bei Avon Books / Eos (HarperCollins) New York:

  • „The Book of Ash #1: A Secret History“, 1998, 432 Seiten
  • „The Book of Ash #2: Carthage Ascendant“, 2000, 432 Seiten
  • „The Book of Ash #3: The Wild Machines“, 2000, 391 Seiten
  • „The Book of Ash #4: Lost Burgundy“, 2000, 464 Seiten

Im Bastei-Lübbe Verlag Bergisch Gladbach erschienen ebenfalls vier Bände:

  • „Die Legende von Ash #1: Der Blaue Löwe“, 2003, 542 Seiten
  • „Die Legende von Ash #2: Der Aufstieg Karthagos“, 2003, 587 Seiten
  • „Die Legende von Ash #3: Der steinerne Golem“, 2004, 507 Seiten
  • „Die Legende von Ash #4: Der Untergang Burgunds“, 2004, 700 Seiten

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)