Rezension zu „Bettler in Spanien“ von Nancy Kress, Originaltitel: „Beggars in Spain“, Ersterscheinung: 1993 (USA)
Deutsche Ausgabe: „Bettler in Spanien“, 1997, Wilhelm Heyne Verlag München, 572 Seiten, gebunden
Inhalt
Im Jahre 2008 macht die Wissenschaft eine bahnbrechende Entdeckung: Durch ein neues Verfahren der Gen-Manipulation ist es möglich, das Schlafbedürfnis eines Menschen auszuschalten. Alles was der Körper normalerweise im Schlaf erledigt, tut er bei diesen ‚Schlaflosen‘ nun im Wachzustand. Der Millionär Roger Camden gehört zu denen, die für ihre ungeborenen Kinder diese Manipulation kaufen – seine Tochter Leisha Camden wird nie schlafen müssen.
Als Kinder werden die Schlaflosen belächelt, doch als Leisha und die anderen erwachsen werden, erfahren sie immer öfter auch Ablehnung, Neid und Hass. Ein schlafloser Student kann 24 Stunden am Tag lernen, ein schlafloser Anwalt schreibt Plädoyers, während sein Prozessgegner schläft… – die ‚Schlaflosen‘ haben alle Anlagen in die Wiege gelegt bekommen, um die Elite der Menschheit darzustellen, doch die Gesellschaft honoriert die herausragende Intelligenz einzelner nur selten. Und so fassen einige der Schlaflosen den Plan, eine Zuflucht zu schaffen, einen Ort, der ganz ihnen gehört – eine eigene Gemeinschaft. Sanctuary wird ihnen zur Heimat, doch es beschwört neue Probleme zwischen den Schlaflosen und dem Rest der Menschheit herauf. Und mitten zwischen den Fronten steht Leisha Camden…
Bewertung
„Bettler in Spanien“ ist ein ungewöhnlicher Roman. Seine Handlung ist spannend, die Charaktere sind äußerst realistisch geschildert – doch der eigentliche Kern hat mit SF nichts zu tun, vielmehr geht es im eigentlichen um gesellschaftliche Probleme und Fragen der Gegenwart. Wie es SF tun sollte, werden diese in eine phantastische Handlung verpackt, überspitzt und verdeutlicht, aber der Kern der Handlung ist eine ganz gegenwärtige Frage: Wie soll eine Gesellschaft mit ihren schwächeren Mitgliedern umgehen? Haben Schwache ein Anrecht auf die Früchte der Arbeit der Starken, einfach weil sie schwach sind? Darauf bezieht sich auch der Titel des Buches, denn am Anfang stellt der Charakter Tony Leisha diese Frage:
Du gehst in einem armen Land wie Spanien eine Straße entlang, […] und hundert Bettler wollen jeder einen Dollar von dir, und du sagst nein; sie haben natürlich nichts, was sie dir im Tausch dafür geben könnten; aber sie sind so stinksauer auf dich und das, was du hast, dass sie sich auf dich stürzen… […] Aber der springende Punkt dabei ist: Was schuldest du den Bettlern?
Leisha glaubt an den für beide Seiten nutzbringenden Austausch von Leistungen und Gütern, daran, dass sich ein Individuum über sein Streben nach Erstklassigkeit definiert. Und später, als sie Anwältin wird, glaubt sie an das Gesetz, das für alle Menschen gleich gelten sollte. Doch die Zeit zeigt, dass es nicht möglich scheint, eine Gemeinschaft zu schaffen, in der alle Menschen gleich sind, und gleichzeitig jedem Individuum zuzugestehen, nach persönlicher Erstklassigkeit zu streben – denn dann werden einige zu Genies und einige zu Bettlern.
„Bettler in Spanien“ folgt anfangs Leishas Entwicklung, ihren Erfahrungen mit den Menschen. Später, nach der Schaffung Sanctuarys, weitet sich der Konflikt auf eine globalere Ebene aus, doch immer bleiben diese gesellschaftlichen Fragen präsent, immer verändert sich Leishas persönliche Antwort darauf. Im Laufe der Zeit sehen wir verschiedene Gesellschaftsformen, und alle drehen sich letztlich um das Problem, wie eine Gesellschaft den Gegensatz zwischen Starken und Schwachen bewältigen soll.
Das Aufwerfen dieser gesellschaftlichen Fragen hat mich an „Bettler in Spanien“ hauptsächlich fasziniert, denn das sind Probleme, die sich auch heute stellen. Wie geht man mit Leuten um, die zu dumm oder zu faul sind, der Gesellschaft einen sinnvollen Beitrag zu liefern? Ist es möglich, tatsächlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle gleich sind, nicht nur an Rechten und Pflichten, sondern auch an Fähigkeiten; in der tatsächlich jeder das gibt, was er auch nimmt? In dieser Hinsicht präsentiert das Buch verschiedene Ideen und Modelle und regt allgemein sehr zum Nachdenken an.
Natürlich sind auch die phantastischen Elemente interessant, die Schlaflosigkeit und ihre Auswirkungen, sowie die späteren weiteren Gen-Modifikationen. Auch in dieser Hinsicht steckt viel Phantasie in dem Buch. Was für mich aber noch schwerer wog und neben den gesellschaftlichen Fragen das Buch absolut lesenswert macht, sind die Charaktere. Nancy Kress vermeidet es gekonnt, in irgendeine Art von Klischee abzugleiten. Alle Charaktere befinden sich im Fluss, verändern sich, wachsen, ändern ihre Ansichten – in dieser Hinsicht ist die Schilderung der Charaktere sehr plastisch. Die Motivation der Charaktere ist nachvollziehbar, selbst bei denen, die noch am ehesten die ‚Bösen‘ dieser Geschichte sind. Das trägt sehr dazu bei, dass man sich mit Leisha und den anderen Personen dieser Geschichte identifiziert.
„Bettler in Spanien“ ist der erste Teil einer Trilogie und basiert auf einer Novelle von Nancy Kress (der erste Teil des Buches). Die Novelle gewann sowohl den Nebula- als auch den Hugo-Award als beste Novelle (1991 bzw. 1992). Der Roman war ebenfalls nominiert, gewann jedoch nicht.
Fazit
Ein exzellentes Buch, größtenteils ruhig und ohne Action, aber sehr spannend geschrieben. Das Buch lebt von den lebendigen Charakteren und den gesellschaftskritischen Ansätzen.