Hochmut kommt vor dem Fall

Ich werde mich zuerst einmal vorstellen. Ich bin ein Gott. Nicht der Gott, sondern ein Gott, der Gott des Meeres, um genauer zu sein. Man nennt mich Poseidon.

Ich bin ein ziemlich beschäftigter Gott, immer wieder muss ich den Menschen einen Dämpfer verpassen. Es macht schon Spaß, einen Deppen wie Odysseus neun Jahre lang im Kreis fahren zu lassen. Und letztlich geht nichts über einen richtig schönen Hurrikan. Doch auch als Gott hat man Freizeit, und die muss man ja irgendwie verbringen. Zum Beispiel in New York. Ich mag New York, weil es niemanden zu kümmern scheint, wenn ich mit Dreizack und Muscheln in den Haaren umher laufe.

Ich hatte also für mich und Athene eine Woche im Grand Hotel gebucht, und schließlich ließ ich mich von ihr sogar zu einem Kinobesuch überreden. Es lief gerade „Titanic“. Der Titel weckte in mir Erinnerungen, doch hatte der Film mit diesen Erinnerungen nicht viel zu tun. Einigermaßen erstaunt musste ich feststellen, dass sich auf der Erde um die Titanic eine richtige Legende gebildet hatte. Aus dem simplen Stahlkahn, den ich in Erinnerung hatte, war in der Vorstellung der Menschen ein Wunderschiff geworden, das es wert war, mit einem 200-Millionen-Dollar-Budget verfilmt zu werden. Das ist so natürlich nicht richtig, deshalb folgt hier jetzt der Enthüllungsbericht „Titanic – Was wirklich geschah“:

Spätestens seit die Menschen die Seefahrt beherrschen, wurde meine Vorliebe für Stürme für sie richtig gefährlich. Da ist es halt schon mal passiert, dass ein Schiff in einem Sturm mit Mann und Maus unterging. Eigentlich ist es sogar recht häufig passiert.

In jener schicksalhaften April-Nacht im Jahre 1912 entdeckte ich also mitten auf dem Atlantik diesen Stahlkahn und konnte einfach nicht widerstehen.

Ich kam gerade aus Florida und hatte eigentlich erst mal die Nase voll von Stürmen. Aber diesen Kahn schaffe ich auch so, dachte ich mir und produzierte eine starke Strömung, die einige der polaren Eisschollen durch die Schifffahrtsroute trieb. Wie die Menschen auf einen derart einfachen Trick hereinfallen konnten, ist mir bis heute ein Rätsel, vielleicht waren sie zu sehr mit der Bewirtung der Gäste beschäftigt, um mal einen Blick auf das Meer vor ihnen zu werfen.

Jedenfalls rammte das Schiff tatsächlich einen Eisberg. Bis sie kapiert hatten, dass ihr Schiff sank, war es für die meisten zu spät. Und weil irgendwer das Gerücht verbreitet hatte, dieses Schiff sei unsinkbar, hatte man bei weitem nicht genug Rettungsboote an Bord.

Wahrscheinlich hätte ich mir nicht einmal den Namen des Schiffes gemerkt, dazu ist meine jährliche Versenkungsrate viel zu hoch, aber mein Bruder Hades ist sehr pingelig, was solche Sachen angeht. Bei Lieferungen über 100 Personen will er immer Todeszeit und -ursache wissen, für die Akten. Überhaupt habe ich mit ihm in letzter Zeit ziemlichen Ärger. Hades versucht ständig, mich zu bremsen. Er fürchtet wohl, dass die Exklusivität seiner Unterwelt leidet, wenn dort zu viele Wasserleichen umherlaufen. Ständig sagt er mir, dass er nur begrenzte Unterbringungsmöglichkeiten für derartige Todesfälle hätte, und dass ich mich doch bitte etwas zurückhalten solle.

Doch trotz all dieses Ärgers hinter den Kulissen war es eigentlich nur ein ganz normales Schiffsunglück, wie es mir alle paar Tage passiert, nur einige Nummern größer. Und falls damals jemand ernsthaft geglaubt hat, die Titanic wäre unsinkbar, habe ich ihn ja eines besseren belehrt. Es muss wohl ein Mensch mit Sinn für Dramatik gewesen sein, der die Geschichte des „unsinkbaren“ Schiffes derart aufbauschte. Bedenklich ist nur, dass die Menschen anscheinend wirklich an all die Märchen über die Titanic glauben.

Im Zuge des Films bricht ja eine richtige Titanicomanie auf der Erde los. Ich habe es in unserer Zeitung, dem ‚Olympic Mirror‘, verfolgt. Eine Horde von geschäftstüchtigen Verrückten ist sogar auf die Idee gekommen, eine neue Titanic zu bauen. Wie ich die Menschen kenne, werden sie das wohl wirklich tun. Und mit der gleichen Sicherheit sage ich Ihnen: Auch auf die Gefahr hin, eine neue Legende zu erschaffen, die Jungfernfahrt dieses Titanic-Nachbaus ist in meiner Sturmplanung schon berücksichtigt.

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)