Es sind schon ein paar Wochen vergangen, aber ich wollte trotzdem noch etwas zu meinem Besuch auf dem Soldatenfriedhof Hooglede aufschreiben. Ende Mai waren wir drei Tage in Amiens, in Nordfrankreich, und haben die Gelegenheit genutzt, einen kleinen Abstecher nach Roeselare in Belgien zu machen. Der Weg führte uns sowieso durch fast ganz Belgien, und statt bei Valenciennes nach Süden abzubiegen, sind wir nach Norden gefahren. In Roeselare haben wir am Stadtrand in einem McDonald’s gegessen (so massig viel Zeit hatten wir ja nicht), und dann ging es über die Felder in den kleinen Nachbarort Hooglede. An dessen Rand liegt ein deutscher Soldatenfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg.
Wer mich kennt oder hier auf die letzten Beiträge schaut weiß, wieso ich dort vorbeischauen wollte. Mein Urgroßvater Ludwig starb 1917 in Flandern und war einige Monate dort beerdigt. Die Ahnenforschung bringt es mitunter mit sich, dass man mehr über die Urgroßeltern weiß als über die Großeltern. Das liegt an den Schutzfristen, z.B. 110 Jahre für Geburtseinträge, so dass sich die Zeit vor 1914 viel stressfreier erforschen lässt als z.B. die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Auch hier geht es mir so: Ludwig Ruthenberg lebte von 1880 bis 1917. Über 100 Jahre sind seit seinem sinnlosen Tod in einem sinnlosen Krieg vergangen, und jeder der ihn kannte ist mittlerweile ebenfalls nicht mehr da. Aber ich habe seine Feldbriefe vorliegen, von meinem Onkel vor Jahrzehnten transkribiert und zusammengestellt, sowie einige Fotos von Ludwig und seiner Frau und ein paar Original-Unterlagen. Durch die Beschäftigung mit den Briefen, die ich vor zwei Jahren aus einer gedruckten Fassung digitalisiert habe, habe ich tatsächlich ein bisschen das Gefühl, meinen Urgroßvater zu kennen.
Er war natürlich ein Kind seiner Zeit, aufgewachsen im Kaiserreich, und hat sich wohl auch freiwillig zum Krieg gemeldet. Als Offizier in einem Reserve-Bataillon war er sowohl im Osten als auch in Belgien und Frankreich im Einsatz. Was ihn mir so sympathisch macht sind die vielen Stellen in seinen Briefen, wo man deutlich merkt, dass er eigentlich ein ganz normaler Typ war – Ehemann, Vater, Lehrer. In erster Linie wollte er heil wieder nach Hause kommen und hat Heldenmut auf freiwilligen Patrouillengängen gerne anderen Kameraden überlassen. Wenn man weiß, wie seine Geschichte ausging, ist es schwer, die letzten Zeilen an meine Urgroßmutter zu lesen, den letzten Geburtstagsgruß an meinen Großvater. Noch im Oktober 1917 hatte er eine Versetzung in einen rückwärtigen Bereich in Aussicht:
Ich habe mich sehr still und sehr dankbar zur Reise in die Etappe fertig gemacht. Unsere Division wird bald im Kampf stehen. Nach allem, was ich höre, besteht für mich die Aussicht, daß ich hier — wenn auch bei reicher Arbeit — so doch in einiger Sicherheit die Zeit unseres Wartens in dieser Gegend hier zubringen kann.
Daraus wurde leider aufgrund der Verluste seiner Einheit nichts. Die historische Sicht, was dann passierte, kann man bei Wikipedia unter dem Stichwort „Zweite Passchendaele-Schlacht ab 26. Oktober“ nachlesen. Ich habe aber tatsächlich auch zwei Briefe aus dem Regiment mit sehr persönlichen Schilderungen, hier z.B. an Ludwigs Schwiegervater:
Das Bataillon lag in Bereitschaftsstellung ca 6 km hinter der ersten Linie. Bei einem Angriff bzw. Alarm mußte das Btl. aber ca 3km weiter nach vorn rücken u. zwar mußten sich die Kompagnien so gut es ging Unterschlupf in Kellern u.s.w. suchen, da das Dorf größtenteils unter schwerem engl. Feuer lag. Dies war auch am 10. der Fall. Teile von 3 Komp. hatten Unterschlupf in einem größeren Keller gefunden, der ziemlich sicher schien. Eine schwere Granate durchschlug das Kellergewölbe u. bis auf wenige fanden alle den Heldentod, u. a. noch 2 weitere Komp.Führer. Ärztliche Hilfe ist fast sofort zur Stelle gewesen u. der erste Verband ist Ihrem Schwiegersohn durch den San.Arzt der 5.Komp. angelegt worden.
Die Verwundung hat zuerst gar nicht schlimm ausgesehen a. war Ihr Schwiegersohn bei vollem Verstande. An ein nahes Ende hat zuerst kein Mensch gedacht. Es ist sofort ein Sanitäts-Auto herbeigeschafft worden, doch kurz bevor solches eintraf, fingen die Sinne an, zu entschwinden. Bei weiterer näherer Untersuchung hat sich herausgestellt, daß neben der Verwundung innere Quetschung vorlag. Hieran ist Ihr Schwiegersohn auch wohl auf dem Transport verschieden.
Verwundet wurde er in Westrozebeke, ein Stückchen südlich. Ich denke nicht, dass es Sinn macht, durch die heutigen Einfamilienhaus-Wohngegenden in dem Örtchen zu laufen und nach Anklängen der obigen Schilderung zu schauen. Aber der Friedhof, auf dem er bestattet wurde, war dann doch ein Ort, den ich einmal besuchen wollte. Der Friedhof in Hooglede ist nicht speziell groß. Schwer zu sagen, was es in den üblichen Fußballfeldern wäre, zwei oder drei vielleicht!? Er ist von Bäumen gesäumt und am Ende steht eine kleine Halle. Aber man kann den ganzen Platz überblicken, man kann sich dort nicht verlaufen. Es stehen einige alte, steinerne Kreuze, aber diese sind nur Dekoration. Die Gräber bestehen lediglich aus kleinen Platten, die in den Boden eingelassen sind. Auf jeder Steinplatte stehen die Namen von zwei Männern (irgendwo gab es auch ein oder zwei Frauen), die hier bestattet wurden. Und wenn man so durch die Reihen geht und auf die Nummern achtet, werden einem die Ausmaße bewusst. Auf diesem kleinen Fleckchen Erde sind tatsächlich um die 8000 Menschen beigesetzt. Und das ist nur ein Friedhof von so vielen!
Für mich gab es hier nichts speziell zu besuchen. Ich weiß, dass Ludwig im Grab 859 bestattet wurde. Aber schon am 12. März 1918, „nachmittags 1 Uhr“, fand sich dort Ludwigs Bruder Max ein und hat den Sarg nach Hause nach Greifswald überführt, wo Ludwig Ruthenbergs Grab noch heute auf dem alten Friedhof liegt. Über Max weiß ich sehr wenig bisher. Er war in einer anderen Einheit in der Nähe im Einsatz und hat den Krieg überlebt, viel mehr weiß ich über seine Kriegsjahre leider nicht. Wie es ihm an diesem Tag gegangen sein mag am Grab 859 kann ich mir aber vorstellen.
Das Grab habe ich gefunden, und es könnte tatsächlich der konkrete Ort gewesen sein, wo mein Urgroßvater beerdigt war. Endgültig sicher bin ich nicht, ob es sich um den gleichen Friedhof handelt (viele Tote wurden von kleineren Friedhöfen nach dem Krieg in größere Anlagen umgebettet) und ob die heutige Nummerierung der von 1917 entspricht. In Nummer 859 wurde am 19. März 1918 ein anderer Soldat bestattet, das würde also gut passen. Aber auch ohne hier etwas konkretes zum Fotografieren vorzufinden hat sich der Besuch für mich gelohnt. Es verbindet einen noch einmal ganz anders mit der Familiengeschichte, wenn man die Orte, an denen die Geschichte stattgefunden hat, besuchen kann.
Und auch aus historischer Sicht lohnt so ein Besuch. Man kann ja viel lesen über den Front-Verlauf der Weltkriegsjahre, welche Schlachten wo stattgefunden haben, und wenn man die Einheiten kennt, in denen die Vorfahren eingesetzt waren, kann man sich da durchaus detaillierte Schilderungen beschaffen. Vor Ort stehen auch überall Schilder („Front am 01.09.1917″ und so). Das ist schon bedrückend genug. Es ist aber tatsächlich schwierig, sich diese völlig andere Welt vorzustellen, wenn man in den netten grünen Feldern Flanderns steht. Wo heute ein Gewerbegebiet mit McDonalds steht, war damals vielleicht ein Feldlazarett. Wo heute der Bauer nebenan seine Felder bestellt, haben damals Granaten die Landschaft zerstört. Die alten schwarzweiß-Fotos des Krieges und die heutige friedliche Landschaft, das ist ein krasser Kontrast und passt nicht zusammen. Und deshalb braucht es Orte wie diese Soldatenfriedhöfe, die einen auch heute noch durch ihre Anwesenheit daran erinnern, dass dieser Irrsinn real war.