Rezension zu „American Gods“ (author’s preferred text) von Neil Gaiman, 635 Seiten, Headline Review Books, 2005
Deutsche Ausgabe: „American Gods“ (Director’s Cut), 2015, Eichborn
Inhalt
Shadow hat drei Jahre im Gefängnis gesessen und freut sich darauf, zu seiner Frau Laura zurückzukehren und sein Leben weiterzuleben. Doch als er dann auf Bewährung entlassen wird, gibt es kein Leben, zu dem er zurückkehren könnte: Seine Frau ist bei einem Autounfall gestorben, sein bester Freund und Arbeitgeber auch. In dieser Situation trifft Shadow auf Mr. Wednesday, der ihm einen Job anbietet als Bodyguard, Fahrer und Laufbursche. Wednesday besteht darauf und Shadow gibt schließlich nach. Doch schon bald wird Shadow klar, dass merkwürdige Dinge vor sich gehen: Seine (un)tote Frau stattet ihm einen Besuch ab und Mr. Wednesday stellt sich als Göttervater Odin heraus, der den Kampf der alten Götter gegen die neuen Götter organisiert…
Bewertung
„American Gods“ stand bei uns viele Jahre ungelesen im Schrank, doch kürzlich habe ich es spontan angefangen zu lesen, nachdem ich Gaimans Kurzroman „The Ocean At The End Of The Lane“ gelesen und sehr gemocht hatte. „American Gods“ ist genauso gut geschrieben. Gaiman kann einfach mit Worten umgehen, mit Sprache. In dieser Hinsicht erinnert mich sein Schreibstil ein wenig an Patrick Rothfuss‘ „The Name Of The Wind“, auch wenn dieser Vergleich vermutlich genau falsch herum ist.
Inhaltlich ist „American Gods“ ein sehr langes Buch, dessen Geschichte sich ohne Hektik fortbewegt und teilweise etwas ziellos vor sich hin mäandert. Nun kann man aber nicht sagen, dass der Autor vergessen hätte, spannende Plotwendungen einzubauen, oder dass er einfach nicht wüsste, wie er die Geschichte spannender erzählen sollte. Wie man im Vorwort lesen kann, ist „American Gods“ vom Stil her genau so geworden, wie Neil Gaiman das Buch haben wollte:
„I wanted to write a book that was big and odd and meandering, and I did.“
Insofern ist „American Gods“ keine leichte Flughafenlektüre und nicht vernünftig in 3-Seiten-Häppchen zu lesen. Das Buch ist dick, und man hat nur Spaß daran, denke ich, wenn man auch mal 100 Seiten am Stück liest. Es ist also einfach nicht ein Buch für jedermann, und das ist OK.
Das Buch handelt von Mythologien, von den Nischen, welche die alten Götter sich im modernen Leben geschaffen haben, vom Glauben. Shadow trifft auf die verschiedensten mehr oder wenigen mythischen Charaktere. Darunter sind ägyptische und nordische, slawische und afrikanische Gottheiten. Sie alle kamen mit den Menschen, welche sie verehrten ins Land, auch wenn sie heute halb vergessen sind. Dieses Konzept ist durchaus spannend: Dass die Menschen, welche nach Amerika kamen, eine Version ihrer Götter mitbrachten. Eine andere Inkarnation von Odin lebt immer noch in Skandinavien. Die Götter, welche wir hier treffen, sind also eine deutlich amerikanische Version ihrer selbst, nach 400 und mehr Jahren auf diesem Kontinent. Sie alle mussten irgendeinen Weg finden, mit den schwindenden Zahlen ihrer Verehrer klarzukommen. Die Schicksale der Götter sind dabei mit viel Liebe zum Detail dargestellt und spannend geschildert. Flashbacks zeigen auch immer wieder losgelöst von der eigentlichen Handlung, wie die Götter ins Land kamen.
Eine Bewertung des Buches fällt mir durchaus schwer. Zum einen kann man es nicht vernünftig bewerten, wenn man sagen wir mal nur 100 Seiten gelesen hat. Viele Dinge ergeben erst später einen Sinn. Manches davon kann man schon sehr früh ahnen, andere Twists sind gut vorbereitet und versteckt, finde ich. Generell ist dies ein Buch, wo jeder noch so unbedeutende Charakter später noch einmal wiederkommt. Auch deswegen empfiehlt es sich, das Buch möglichst ohne größere Pausen zu lesen. Mit dem Hauptcharakter Shadow hatte ich so meine Probleme. Alleine dadurch, dass wir nur seinen Spitznamen anstatt seines echten Namens erfahren, wirkt er unwirklich und es fällt schwer, sich mit Shadow zu identifizieren. Auf der anderen Seite funktioniert das Buch aber nicht, wenn man sich nicht mit Shadow identifizieren kann, denn die Geschichte ist komplett aus seiner Perspektive erzählt (von den Flashbacks mal abgesehen), wenn auch nicht mit einem Ich-Erzähler.
Störender fand ich aber ein grundsätzlicheres Problem: Der Autor betont immer wieder, dass Amerika ein gottloses Land wäre, dass der ganze Kontinent kein gutes Land für Götter wäre. Zugegebenermaßen war ich noch nie in den USA, aber aus der Außenperspektive scheint es ein ganz tolles Land für Götter zu sein. Dem Christentum geht es blendend, bis in die Klassenzimmer hinein. Neben den traditionellen Versionen gibt es ein unüberschaubares Sammelsurium an mehr oder weniger bedeutenden Varianten des Christentums, es gibt den Islam und den Buddhismus, es gibt bekloppte Neuschöpfungen, Sekten, Kreationismus etc. Die Menschen glauben offenbar jeden Quatsch. So gesehen kann man doch nicht sagen, dass die Menschen in Amerika nichts glauben würden. Sie glauben halt nur nicht mehr an ägyptische oder nordische Götter. Es erschließt sich mir insofern nicht, wie man ein Buch über die Götter Amerikas schreiben kann, ohne dass ein Jesus Christus im Rolls Royce vorfährt. Eigentlich müssten gleich mehrere Jesuse die Geschichte bevölkern, ein katholischer, ein mormonischer etc. Dass ist gewissermaßen ein grundsätzlicher Konstruktionsfehler der Geschichte, den man über 600 Seiten hinweg aktiv ausblenden muss. Das kann man natürlich tun, aber es ist wirklich schwer zu erklären, wieso Neil Gaiman sich entschieden hat, alle wichtigen Weltreligionen aus der Geschichte auszublenden.
Ein Wort zur Version des Buches: Der Roman erschien 2001 und wurde damals auf Anraten des Lektors um einiges gekürzt. Später gab ein kleinerer Verlag eine spezielle, wiederhergestellte Fassung heraus, welche ca. 12.000 Wörter länger war. Viele gekürzte Stellen wurden hier in aufwändiger Kleinarbeit wieder eingefügt. Diese „author’s preferred text“ genannte Version habe ich gelesen, und ich bin ehrlich nicht sicher, ob die kürzere Fassung nicht besser ist. Das Buch ist wirklich recht lang und verschreckt mit dieser Länge sicher den ein oder anderen Leser. Andererseits, wenn Neil Gaiman die Geschichte so besser findet…
Dass niemand so richtig weiß, in welche Schublade dieses Buch gehört, kann man übrigens auch daran sehen, dass es mit dem Hugo Award, dem Nebula Award, dem Locus Award und dem Bram Stoker Award ausgezeichnet wurde, jeweils Preise für SF, Fantasy und Horror.
Fazit
„American Gods“ ist ein langes und teilweise merkwürdiges Buch. Es ist keine schnelle Lektüre für zwischendurch und kein Buch für jeden. Aber Neil Gaiman ist ein hervorragender Autor, der mit Sprache umgehen kann und eine spannende Geschichte spinnt. Ich fand den Roman trotz aller Kritikpunkte lesenswert.
Das Buch steht schon ewig auf meiner zu-Lesen-Liste, wurde dann aber von der Verfilmung (also der Serie) eingeholt. Die ist in etwa so, wie die Beschreibung, die du hier vom Buch abgibst. Teilweise komplett surreal, viel Gewalt und Sex, was laut einer Buchleserin wohl auch dem Inhalt entspricht und – offenbar im Gegensatz zum Buch „Eigentlich müssten gleich mehrere Jesuse die Geschichte bevölkern“ – einer ganzen Sammlung von Jesusen in einer Folge. Und da Shadow in der Serie greifbarer, weil sichtbar ist, kann man sich wunderbar mit ihm identifizieren.
Vielleicht lese ich das Buch irgendwann doch noch, dann aber vermutlich in der deutschen Fassung, aber nach deiner Rezension bin ich mir nicht sicher, ob es mir gefallen wird. Es wird wohl doch eher erst einmal „The Ocean At The End Of The Lane“ … nachdem ich den Stapel ungelesener Bücher etwas abgebaut habe ;-).
Die Serie habe ich noch nicht gesehen und bin auch nicht sicher, ob sie mich interessiert. Werde ich erst mal auslassen, denke ich. Es gibt ja auch so genug zu schauen.
„The Ocean At The End Of The Lane“ fand ich übrigens sehr gut. Vom Stil her sind die Bücher gar nicht mal so verschieden, aber dieses Buch fasst sich relativ kurz, was der Geschichte gut tut. Nicht jeden Gedanken muss man immer auf 1000 Seiten auswalzen. 🙂