Richard Morgan: Altered Carbon

Cover 'Altered Carbon'Rezension zu „Altered Carbon“ von Richard Morgan, Gollancz London, 2002, ca. 534 Seiten, Ersterscheinung: 2001 (UK)

Deutsche Ausgabe: „Das Unsterblichkeitsprogramm“, Wilhelm Heyne Verlag, 2004, 606 Seiten

Inhalt

Im 26. Jahrhundert: Die Menschheit hat sich über viele Planeten verteilt, mehr oder weniger freiwillig regiert von den Vereinten Nationen auf der Erde. Diese fragmentierte Menschheit wurde von einer bahnbrechenden Erfindung grundlegend verändert: Seit längerer Zeit lässt sich das Bewusstsein eines Menschen vom Körper trennen, speichern, übertragen und in einen beliebigen neuen Körper wieder einspielen. Diese Erfindung macht physische Reisen durchs All überflüssig, genauso wie Gefängnisse. Vor allem aber macht sie die Menschen potentiell unsterblich, denn jeder Mensch trägt einen kortikalen Speicher im Rückenmark, der sein Bewusstsein abspeichert und reproduzierbar macht.

Takeshi Kovacs diente einst im Envoy Corps der UN, einer gefürchteten Spezialeinheit. Doch seit seiner Entlassung hat er sich des öfteren auf der falschen Seite des Gesetzes wiedergefunden, was mit seinem Tod und der anschließenden Verurteilung auf seinem Heimatplaneten Harlan’s World endete. Nun erwacht er unerwarteterweise auf der Erde, in einem neuen Körper. Der einflussreiche Industrielle Laurens Bancroft hat seine vorübergehende Entlassung aus dem virtuellen Gefängnis bewirkt, um ihm bei der Aufklärung eines Mordfalles zu helfen. Der Tote: Bancroft selbst. Nach der Wiederherstellung des letzten Backups weigert sich Bancroft, die These der Polizei zu glauben, dass er Selbstmord begangen haben soll…

Bewertung

Wow, was für ein Buch! An der umfangreichen Inhaltsangabe sieht man schon, dass dies keine einfache Story ist und keine einfache Welt. Und ich muss sagen, hätte ich das Buch im Laden in die Finger bekommen, hätte ich es sicher nicht gekauft. Das Cover ist nichtssagend (wenn auch glitzernd) und statt einer Inhaltsangabe enthält das Backcover nur Kritikerzitate. Aber monatelange und beharrliche Empfehlungen in der Cardiffer „Reading Group“ haben mich dann doch bewogen, Richard Morgans Erstlingswerk zu lesen, und ich bin begeistert. Seit längerem habe ich nicht mehr einen Roman gelesen, der mit so viel Können geschrieben ist und dabei so spannend, unterhaltsam und ideenreich ist.

„Altered Carbon“ ist die Einführung in eine neue Welt, in der mittlerweile zwei weitere Bücher von Richard Morgan spielen. Die Welt, die der Autor entwirft, ist komplex und auf den ersten Blick verwirrend. Man muss das auf den ersten 20, 30 Seiten einfach ignorieren und weiterlesen, dann ergibt alles sehr schnell einen Sinn. Stilistisch ist der Roman eine Mischung aus einer klassischen Detektivgeschichte und einer SF-Dystopie. Der Autor meint zur Entstehung des Buches auf seiner Webseite:

Fuelled by every crime noir novel I‘d ever read, plus swabs of French and Japanese cinema, the work of William Gibson and M John Harrison, early Poul Anderson and Bob Shaw, and last but not least the colossal impact of Bladerunner, this was my take on future noir. Fast forward to middle of the new millennium, and down where it counts, nothing has changed, because neither have we. Enter Takeshi Kovacs.

Morgan hält sich im übrigen nicht mit technischen Details auf. Wie der Bewusstseinstransfer oder die Cortical Stacks technisch und physikalisch funktionieren, interessiert im Rahmen des Romans nicht. Was das für Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, schon viel eher. In dieser Hinsicht stecken ohne Ende spannende Ideen in dem Buch, und Morgan entwirft ein in sich stimmiges wenn auch gruseliges Bild einer zukünftigen Gesellschaft. Ein Gefängnisurteil ist hier z.B. gleichzusetzen mit dem Verlust des eigenen Körpers, es sei denn man kann die Miete für die Lagerung bezahlen. Andernfalls findet man sich nach seiner Entlassung möglicherweise in einem Körper mit anderer Hautfarbe wieder und sieht seinen eigenen Körper im Fernsehen von Fremden aufgetragen. Wobei der Autor da auch nicht wirklich eine moralische Wertung in die Geschichte mischt, die muss sich der Leser selber überlegen.

Der Dreh- und Angelpunkt des Buches ist Takeshi Kovacs, aus dessen Ich-Perspektive das Buch erzählt wird. Das ist insofern praktisch als Kovacs noch nie auf der Erde war. An viele Eigenheiten des ältesten von Menschen besiedelten Planeten werden wir also aus der Sicht eines Außenseiters herangeführt (Katholiken etwa, die nicht an die Möglichkeit des Transfers einer Seele glauben und denen deswegen der Weg zu anderen Planeten verschlossen ist). Andere Facetten dieser Welt lernen wir aus Kovacs Erinnerungen besser kennen, etwa das Envoy Corps. Das Corps und dessen Konditionierung machen aus Kovacs auch aus dieser Sicht einen Außenseiter. Was physische Verbesserungen betrifft, muss Kovacs nehmen, was sein jeweiliger Körper zu bieten hat. Psychisch wurde er auf Extreme getrimmt: Reflexe, Auffassungsgabe und Schmerzresistenz wurden gesteigert, jegliche Hemmungen gegenüber Gewaltanwendung wurden vom Corps wegkonditioniert.

Diese komplexe, düstere Science-Fiction-Welt stellt die Bühne eines Detektiv-Plots dar. Die Geschichte ist durchaus klassisch und enthält viele bekannte Zutaten: Der einzelgängerische Detektiv, der tote Industrielle, seine junge Ehefrau, Affären, die unkooperative Polizistin, der korrupte Partner der Polizistin… Doch durch die einzigartige Welt, in der die Geschichte spielt, erhalten alle diese Teile eine ganz neue faszinierende Position im Puzzle. Das Mordopfer ist hier gleichzeitig der noch sehr lebendige Auftraggeber, die junge Ehefrau ist genauso viele Jahrhunderte alt wie ihr Mann und der beste Verbündete Kovacs‘ ist die KI seines vollautomatisierten Hotels.

Morgans Schreibstil ist flüssig und spannungsgeladen. Man mag das Buch nicht weglegen, weil man doch immer wissen möchte, wie es mit der Geschichte und den Charakteren weitergeht. Wenn man erst einmal in dieser Welt angekommen ist, überfordert der Autor auch nicht mit Details, fand ich, man muss sich nur durch die ersten 30 Seiten erst mal lesen. Alle paar Seiten kommt zudem ein herrlicher, sarkastischer Humor in Redewendungen etc. durch, der zum gut lesbaren Schreibstil mit beiträgt. Inhaltlich hat die Geschichte viele düstere Facetten. Kovacs bekommt nichts geschenkt und so ergeht es auch seinen Gegnern. Sex, Gewalt, Folter – Richard Morgan ist nicht gerade zimperlich, ohne dass das ausarten würde.

Wenn er sich mit Technobabble auch nicht aufhält, so entwirft Morgan doch ein glaubwürdiges Bild einer technisierten zukünftigen Welt. Cortical Stacks, Hovercars, virtuelle Realitäten und künstliche Intelligenzen bilden einen integralen Bestandteil dieser Welt, und sie sind für Kovacs so selbstverständlich wie für uns ein Auto oder ein Computer, so dass einfach kein Grund für tiefergehende Erklärungen besteht.

Die Austauschbarkeit der Körper macht es durchaus schwierig, Takeshi Kovacs als Charakter zu fassen. Alle Äußerlichkeiten fallen schlicht weg, denn nach 130 Jahren objektiver Lebenszeit (davon wer weiß wie viele Jahre in virtuellen Gefängnissen) ist seine Jugend in seinem Originalkörper nur noch eine entfernte Erinnerung. Der Charakter definiert sich dann auch mehr über seine Herkunft und seine Fähigkeiten, erst so nach und nach bekommt man ein besseres Gefühl, wer Takeshi Kovacs ist.

Am Anfang der Geschichte ist Kovacs noch recht unbeteiligt. Seine Erinnerungen kehren immer wieder zu den Kriegseinsätzen zurück, die er überlebt hat. Sein gegenwärtiger Auftrag bedeutet ihm nicht viel mehr als die Chance auf eine vorzeitige Entlassung mit einem guten Finanzpolster. Doch das Rätsel um den Tod Bancrofts wird schon schnell persönlich für Kovacs, und schließlich macht er sich daran, den Fall persönlich zu machen. Die immer wieder eingestreuten Zitate der Revolutionärin Quellcrist Falconer von Kovacs‘ Heimatplanet fassen denn auch seinen Charakter mit am besten zusammen:

So if some idiot politician, some power player, tries to execute policies that harm you or those you care about, TAKE IT PERSONALLY. Get angry. […] If you want justice, you will have to claw it from them. Make it PERSONAL. Do as much damage as you can. GET YOUR MESSAGE ACROSS. That way, you stand a better chance of being taken seriously next time. […] And time and again they cream your liquidation, your displacement, your torture and brutal execution with the ultimate insult that it’s just business, it’s politics, it’s the way of the world, it’s a tough life and that IT‘S NOTHING PERSONAL. Well, fuck them. Make it personal.

„Altered Carbon“ gewann 2003 den „Philip K. Dick Award“ für den besten Roman.

Fazit

Spannend, innovativ, unterhaltsam und fesselnd geschrieben. Und fast das wichtigste: Der Roman bricht nicht wie so viele andere Bücher nach Zweidritteln in sich zusammen. Richard Morgan kreiert eine glaubwürdige Welt, mit nachvollziehbaren Charakteren und einer soliden Story. Eine absolut gelungene Mischung aus Science-Fiction und einem düsteren Detektivroman.

Standard-Disclaimer: Ich habe keine Ahnung, ob die deutsche Übersetzung etwas taugt. Da Richard Morgans Sprache oder Schreibstil nicht wirklich spezielle Eigenheiten aufweisen, würde ich aber annehmen, dass es zumindest möglich ist, das Buch adäquat zu übersetzen.

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)