China Miéville: Perdido Street Station

Cover Perdido Street StationRezension zu „Perdido Street Station“ von China Miéville, Pan Books London, 2000, ca. 867 Seiten, Ersterscheinung: 2000 (UK)

Deutsche Ausgabe: „Die Falter“ und „Der Weber“, Bastei-Lübbe

Inhalt

New Crobuzon: Der ausufernde Stadtstaat wird gleichermaßen von Menschen wie Angehörigen anderer Rassen bewohnt. Beherrscht wird der Moloch von Bürgermeister Rudgutter, gestützt auf die gefürchtete Miliz. Doch zwischen den Häusern, Fabriken und Deponien, zwischen reichen Villenvierteln und gedrängten Slums lauern Gefahren, die ganz New Crobuzon an den Rand des Abgrunds bringen können. Solch eine Gefahr wird unfreiwillig heraufbeschworen, als eines Tages ein geheimnisvoller Fremder den Wissenschaftler Isaac Dan der Grimnebulin aufsucht. Der Garuda Yagharek bietet Isaac eine Menge Gold, wenn er ihm das Fliegen zurückgeben kann, denn dem Vogelwesen wurden die Flügel abgeschnitten. Isaac akzeptiert den Forschungsauftrag, doch er ahnt nicht, welches Unheil er dabei heraufbeschwören wird…

Bewertung

So wie New Crobuzon ein Moloch von einer Stadt ist, so ist auch „Perdido Street Station“ ein Moloch: Ganze 860 Seiten nimmt sich China Miéville Platz, um seine Geschichte zu erzählen (im Deutschen wurde das mal wieder auf zwei Bücher verteilt).

Beginnen wir mal mit dem wichtigsten: Das Buch heißt „Perdido Street Station“, aber der treffendere Titel wäre einfach „New Crobuzon“ gewesen. Die Art, wie der Autor diese Stadt beschreibt, macht sie quasi zum heimlichen Hauptcharakter. Es ist nicht einfach nur eine Karte vorne im Buch abgedruckt, der Autor erzählt immer wieder von den einzelnen Stadtvierteln, den Häusern, Bewohnern und Geschichten aller Ecken von New Crobuzon. Und bevor ich in negativere Bewertungen abgleite muss ich doch sagen, dass Miéville die Schilderung dieser Stadt erstaunlich gut gelungen ist. Man hat nach einiger Zeit tatsächlich das Gefühl, diese Stadt zu kennen. Man erkennt die unzähligen Stadtviertel wieder, hat eine ungefähre Vorstellung was wo ist und wie diese merkwürdige Stadt tickt. Das ist durchaus eine Leistung, ein so fremdartiges Szenario so detailliert und glaubwürdig rüberzubringen.

Dabei hatte ich im übrigen den Eindruck, dass das nicht zufällig so gekommen ist. Vielmehr würde ich wetten, dass sich der Autor hingesetzt und sagen wir mal 75 Seiten reine Beschreibungen der Stadt hintereinander weg getippt hat. Und diese Beschreibungen wurden dann später mehr oder weniger passend in die Handlung eingefügt, als wären sie aus einem Reiseführer für New Crobuzon kopiert worden. So faszinierend das sich ergebende Gesamtbild auch sein mag, den Lesefluss stört es schon manchmal und nach einer Weile werden die immer wiederkehrenden Beschreibungen auch durchaus etwas ermüdend.

Apropos ermüdend: Miévielles Schreibstil fällt leider auch ein wenig in diese Kategorie. Keine Ahnung, ob er nur einfach immer so schreibt oder ob er sich hier vorgenommen hat, mal mit aller Kraft ein schwer lesbares Buch zu schreiben. Zugegeben, Englisch ist nun mal nicht meine Muttersprache. Aber ich hatte zeitweise schon das Gefühl, der Autor hätte extra in Fremdwörterbüchern nach seltenen Wörtern gestöbert, mit denen er den Leser noch etwas herausfordern kann. Und es ging nicht nur mir so, dass ich bei jedem fünften Satz ins Stocken kam, auch Muttersprachler bestätigten mir, eine größere Anzahl unbekannter Worte gefunden zu haben. Dazu darf man dann noch die fröhliche Variation bekannter Wörter zählen, und heraus kommt leider tatsächlich kein leicht lesbares Buch. Wobei ich keine Ahnung habe, wie das in dieser Hinsicht in der deutschen Übersetzung aussieht.

Was haben wir noch? Miéville beschreibt nicht nur die Stadt, sondern auch ihre Bewohner. Das beschränkt sich nicht nur auf das Aussehen der insektoiden Khepri, der wasserbewohnenden Vodyanoi, der kakteenartigen Cactacae oder der gefiederten Garuda. Der Autor streift immer wieder auch deren Kultur, Kunst, Rechtssystem etc. Und daneben gibt es noch weit merkwürdigere Völker und Charaktere in New Crobuzon.

Neben der Stadt selbst sind die Hauptcharaktere Isaac und seine Freunde. Miéville gibt sich anfangs große Mühe, alle diese Charaktere sehr differenziert einzuführen. Das geht soweit, dass er auf den ersten 300 Seiten leider keine Zeit für die eigentliche Handlung hat. Leider hatte ich dann zunehmend das Gefühl, dass diese Differenziertheit unter den Notwendigkeiten der dann doch noch einsetzenden Handlungen zu leiden hatte. Da werden Gefühle einfach abgeschaltet, schwer nachvollziehbare Entscheidungen getroffen, von Zweifeln oder Ängsten ist wenig die Rede, und generell hatte ich etwas das Gefühl, dass einige dieser Charaktere plötzlich zu Superhelden mutieren. Ok, so krass ist es vielleicht nicht, aber so richtig nachvollziehbar waren die Motive der Charaktere später im Buch für mich nicht.

Erwähnenswert wäre noch der Weaver. Dieser seltsame Charakter ragt in einer großen Menge seltsamer Charaktere noch mal deutlich heraus. Selbst der Bürgermeister hat vor dem Weaver größten Respekt, und dieses Wesen sorgt für die vielleicht witzigste Szene des ganzen Buches (sagen wir es mal so, wäre „Perdido Street Station“ ein Film, müsste man diese Szene für die Nachmittagsausstrahlung herausschneiden, aber ich fand das wegen der puren Sinnlosigkeit einfach irre komisch). Leider stellt gerade der Weaver aber auch ein dramaturgisches Problem dar, finde ich, da zu keinem Zeitpunkt klar wird, wo seine Grenzen sind. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass der Weaver das Problem der Stadt auch allein hätte lösen können, wenn Isaac und seine Freunde einen längeren Sommerurlaub im Ausland eingelegt hätten.

Der Autor packt im übrigen eine Menge an Ideen und Konzepten in das Buch. Das Rechtssystem der Garuda und im Kontrast das Rechtssystem von New Crobuzon, welches aus dem grausamen Remaking besteht. Die ganz spezielle Kunst der Khepri. Die sozialen Unterschiede innerhalb der Stadt und Inter-Spezies-Beziehungen. Und noch einiges mehr. Ich glaube, ein wenig verloren hat er mich, als er noch eine intelligente Maschine in den Mix warf. Die meisten dieser Ideen sind für sich faszinierend, und aus einigen könnte man problemlos einen eigenständigen Roman formen. Sie alle tragen auch zur weiteren Charakterisierung New Crobuzons bei. Aber für die Story sind die meisten nicht relevant, und im Endeffekt wirkt das leider wie ein etwas unfertiger Mix. All diese vielen Puzzleteile fügen sich am Ende nicht geschickt zu einem storytechnischen Gesamtbild zusammen, sie ergeben eigentlich nichts weiter als nur das Bild dieser fremdartigen Stadt, was auch etwas unbefriedigend ist.

All das deutet irgendwie auf den Kern des Problems hin: China Miéville hat hier meines Erachtens zu viel versucht und im Endeffekt keine ausgewogenen Mischung hinbekommen. Ein Buch lebt für mich immer zuerst von den Charakteren und der Geschichte. Die Geschichte beginnt hier aber erst auf Seite 320 und die Charaktere sind nicht so spannend und wie gesagt später auch etwas schwer nachvollziehbar. Im weiteren Verlauf kommt dann doch noch etwas Spannung auf, aber auf schwer beschreibbare Weise haut mich die Geschichte trotzdem nicht um. Und obendrein macht einem der Autor das Lesen auch noch mit seinem gewollt schwierigen Schreibstil schwer. Da fällt es kaum noch ins Gewicht, dass das Buch mit einem vergleichsweise dämlichen Ende aufwartet.

Unter dem Strich bleibt für mich deshalb vor allem die Erschaffung und Schilderung einer durchaus faszinierenden Welt und eine größere Anzahl spannender Konzepte. Aber für einen 860-Seiten-Wälzer reicht das ehrlich gesagt nicht. Da reicht das gerade nicht. Wäre „Perdido Street Station“ ein 350-Seiten-Roman würde ich vielleicht sagen „Na gut, lassen wir noch durchgehen, Setzen, 2-“. Aber wer mich wochenlang nachts wachhält und mit 860 Seiten beschäftigt, von dem erwarte ich mehr.

Fazit

Nur eingeschränkt empfehlenswert. Wenn euch ein schwieriger Schreibstil nicht schreckt, ihr euch gerne von fremden Welten und spannenden Konzepten begeistern lasst und dafür auch mal Charaktere und Geschichte zurückstehen dürfen, dann versucht euch ruhig daran. Aber ich persönlich fand dieses Buch vor allem ermüdend.

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)