John le Carré: Eine kleine Stadt in Deutschland

Eine kleine Stadt in DeutschlandRezension zu „Eine kleine Stadt in Deutschland“ von John le Carré, 378 Seiten, List Taschenbuch, 2005, Ersterscheinung: 1968 (UK)

Inhalt

Bonn Ende der Sechziger: Während in Brüssel die schwierigen Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt laufen und Deutschland innenpolitisch von der „Bewegung“ Klaus Karfelds in Atem gehalten wird, verschwindet in der britischen Botschaft der untergeordnete Botschaftsangestellte Leo Harting. Mit ihm verschwinden bergeweise Akten und die grüne Mappe mit streng geheimen Dossiers. In dieser allgemein brenzligen Lage wäre es ein Desaster, wenn bekannt würde, dass aus der britischen Botschaft Geheiminformationen in die Sowjetunion geflossen wären. London schickt deswegen Alan Turner von der Spionageabwehr nach Bonn, um Harting und die Akten möglichst unauffällig wiederzufinden.

Bewertung

Dieses Buch habe ich in der Thalia in der Ecke mit Bonn-Krimis entdeckt. Ich war erst total verblüfft, zwischen den üblichen Provinzkrimis einen Thriller von John le Carré zu finden. Man vergisst halt viel zu leicht, dass Bonn mal die Hauptstadt der BRD war. Biographisch macht das Sinn, denn John le Carré war tatsächlich beim MI6 und hat als Botschaftsangestellter zwischen 1961 und 1963 in Bonn gearbeitet. Wenn er hier also die Details des Botschaftslebens schildert, kann man annehmen, dass er weiß, wovon er schreibt.

Der Roman liegt für mich irgendwo zwischen einem Agenten-Thriller und einem Krimi. Auf der einen Seite spielt die Geschichte in der britischen Botschaft und es geht ausführlich um Innen- wie Außenpolitik. Auf der anderen Seite ist das Herzstück der Geschichte die Suche von Turner nach Details des Verschwindens von Leo Harting. Das hat viel von einem Krimi an sich und kommt größtenteils sehr unaufgeregt daher. Mit Krawumm-Action á la James Bond hat das nicht viel zu tun. Ich fand es dagegen überaus faszinierend, wie der Autor hier nach und nach das Bild eines Menschen entwirft. Jede Person, mit der Turner über den Verschwundenen spricht, gibt ein paar mehr Facetten preis. Teilweise kriegen wir widersprüchliche Informationen, und auch Turner tut sich schwer damit, Leo Harting und dessen Vorgehen beim Diebstahl der Akten zu verstehen. Diese Charakterisierung aus der Ferne, ohne dass Harting tatsächlich als Handlungsträger in Erscheinung tritt, fand ich sehr spannend.

Daneben ist nach all den Jahrzehnten natürlich auch der Blick in die Sechziger spannend. Ich bin Jahrgang 1981, insofern ist für mich vieles aus dem geschilderten Alltagsleben eine andere Welt. Wir erhalten Einblick in das soziale Leben der Botschaftsangehörigen, die kleinen gesellschaftlichen Riten und Normen. Auch der ganz gewöhnliche Alltags-Rassismus kommt vor, und ich bin wirklich nicht sicher, ob der Autor dazu eine Meinung hat oder einfach schildert, wie das damals war. Da das Buch ja auch aus den Sechzigern ist, vermutlich eher letzteres. Abgerundet wird das dann durch überaus beiläufig geschilderte Gewalt gegen Frauen. Auch das war damals vielleicht so üblich, dass man als Verhörender eine Frau einfach schlägt, bis sie endlich redet. Das hat heutzutage einen sehr schlechten Beigeschmack, ist aber zum Glück nicht komplett prägend für das Buch. Aber auch die Moralvorstellungen der Ära kommen natürlich vor, genau wie es nur „Männer“ und „Mädchen“ gibt, keine „Frauen“. Wie gesagt, in Teilen wirklich eine fremde Welt.

Politisch bleibt John le Carré größtenteils vage oder fiktiv. Der Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt war in den Sechzigern tatsächlich ein Thema, Frankreich hat das zweimal verhindert. Bekannte Politiker werden allerdings nicht genannt, weder deutsche noch britische. Der deutsche Staat wird durch einen hochrangigen Beamten aus dem Innenministerium vertreten, der britische Staat durch den Leiter der Politischen Abteilung der Britischen Botschaft, Rawley Bradfield. Auch der britische Botschafter bleibt unbenannt im Hintergrund, das Buch will bewusst eine Hierarchie-Ebene tiefer spielen. Interessant fand ich die fiktive „Bewegung“ von Klaus Karfeld, welche im Roman die deutsche Koalitionsregierung vor sich hertreibt. Das erinnert auf gruselige Weise an die aktuelle politische Lage, incl. der Erklärungsversuche: Die Politiker „da oben“ verstehen den kleinen Mann auf der Straße nicht mehr, die Bürger fühlen sich abgehängt etc. Sehr spannend, wie so etwas 1968 aufgeschrieben werden kann und dann 2018 wieder so aktuell ist. Und auf der anderen Seite wird im Roman auch die Queen erwähnt, welche ja 50 Jahre später immer noch auf dem Thron sitzt.

Für mich als Bonner ist das Buch natürlich darüber hinaus faszinierend wegen der Einblicke ins Bonn der Sechziger. Ich selber war 1998 zum ersten Mal in Bonn und bin erst 2011 hierher gezogen. Die Identität als ehemalige Hauptstadt nehme ich im Alltag eigentlich nie wahr. Wenn man am Haus der Geschichte steht vielleicht oder durch das alberne „Bundesstadt“ auf den Ortsschildern. Vielleicht noch am ehesten denke ich daran auf dem Schulweg meiner Tochter, wenn wir an der Gedenkplakette für den ermordeten Gerold von Braunmühl vorbeikommen. Aber sonst ist Bonn doch eher provinziell, nicht mal den Bau eines Schwimmbades kriegt man hier geregelt.

Der Roman entführt dagegen in eine Welt gleich zwei Epochen davor: Bonn wurde unvermittelt zur Hauptstadt gemacht, Ministerien und Botschaftsgebäude wurden zwischen Bonn und dem kleinen Ort Bad Godesberg an der heutigen B9 auf freiem Feld errichtet. Das Buch spielt wohl 1969, und Bonn war auf dem Weg, vom Provisorium bis zur Wiedervereinigung zur Dauereinrichtung zu werden. Der Autor schildert viele Details, die man wiedererkennt, und andere Dinge, wo man dann doch grübelt, wie das ortsmäßig zusammenpassen soll (die Charaktere fahren eine Straße entlang bergan und haben dann freie Sicht auf den Marktplatz, ehe sie über die Brücke nach Beuel fahren – ging das mal?). Witzig fand ich die beharrliche Schilderung des scheußlichen Bonner Wetters (der Nebel!). Ich persönlich finde das Wetter hier eigentlich toll, immerhin ist es oft ein bisschen wärmer als anderswo und meistens schneefrei. Auch die ständigen Erwähnungen des Verkehrslärms sind interessant. Im Vergleich zu heute war das Verkehrsaufkommen damals ja wohl noch bescheiden. Immerhin ein Zeichen, dass das damals schon nicht gut war und man in den Fünfzigern wirklich besser hätte planen müssen.

Die ausführlich geschilderte britische Botschaft stand übrigens an der B9, etwa da wo heute das Hauptquartier der Telekom steht. Das Gebäude wurde 2003 abgerissen, ich habe es also vermutlich nie gesehen, es sei denn, wir wären da 1998 auf der Klassenfahrt dran vorbeigefahren.

Die Sprache des Romans ist definitiv nicht mehr ganz zeitgemäß, man kann es aber noch lesen. Die Lektüre ist aber deswegen etwas anstrengender als bei manch aktuellem Roman. Es ist kein Buch, das man in 2-Seiten-Häppchen lesen kann. Man muss sich einfach etwas Zeit nehmen dafür. Ich habe es außerdem auf Deutsch gelesen. Hier und da schimmern hinter umständlich oder gar unverständlich wirkenden Dialogkonstruktionen durchaus normale englische Dialoge hervor. Ich nehme also an, dass die Sprache auf Englisch nicht ganz so veraltet und angenehmer zu lesen ist. Dialoge, in denen sich Charaktere nach der Übersetzung eines Wortes erkundigen, wirken dann sicher auch etwas natürlicher.

Fazit

Der Roman stellt eine spannende Geschichte aus einer vergangenen Welt von Diplomatie und Spionage dar. Die Suche nach Harting, nach Details des Geschehens, nach dessen Vergangenheit und Motiven erinnert an einen Krimi. Wer Bonn etwas kennt, wird zudem Gefallen an dem Blick in die Vergangenheit finden. Da Bonn 1969 wirklich eine andere Welt war, ist es aber für die Lektüre nicht nötig, sich hier auszukennen. Generell ist es eine Geschichte aus einer anderen Zeit. Das muss man schon mögen. Ich fand das Buch unterm Strich jedenfalls lesenswert und spannend.

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)