Gedanken zum Brexit

Diesen Beitrag habe ich bereits im Juni 2016 geschrieben und aus irgendwelchen Gründen nicht veröffentlicht. Er entspricht aber immer noch meiner Meinung, und das Thema ist ja auch noch aktuell.

Zum britische Referendum von letzter Woche wurde ja schon viel geschrieben. Mich hat das Ergebnis wirklich überrascht. Ich hatte eigentlich relativ fest mit 55% bis 60% für die EU gerechnet, so dass ich Freitag Morgen doch ziemlich schockiert war. Nachdem wir dreieinhalb Jahre in Wales gelebt haben, ist es schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn dieses Land nun plötzlich zum EU-Ausland mutieren sollte.

Bitter ist für mich vor allem, dass viele Briten scheinbar die EU für das verantwortlich machen, was David Camerons Politik angerichtet hat. Als er 2010 gewählt wurde, war klar, dass er einen strikten Sparkurs im Bildungs- und Sozialsystem durchdrücken wollte. „Big Society“ hieß das dann (mit der Konnotation „schlanker Staat“), und „mehr Eigenverantwortung“. Hat aber in der Praxis Kürzungen bedeutet, und zwar sowohl bei den Armen (Leistungen) als auch bei den Reichen (Steuern). Spätestens nach einigen Jahren konnte man das nicht leugnen, und trotzdem haben die Briten die Konservativen wiedergewählt, 2015 sogar mit so vielen Stimmen, dass sie nun ohne den korrektiven Einfluss der LibDems regieren konnten. Und dann wundert man sich plötzlich, wenn es im Bildungssystem hakt? Wenn die soziale Absicherung nicht mehr so gegeben ist und das Gesundheitssystem schwächelt? Da können dann plötzlich die polnischen und sonstigen Migranten was dafür, die wegen dem bösen Schengen-Abkommen in UK wohnen und arbeiten dürfen? Ich kenne keine Zahlen dazu, aber nehme doch mal an, dass die Migranten dort auch zu einem guten Teil die Jobs machen, für die sich nicht ausreichend einheimische Arbeitskräfte finden (nicht bei den Arbeitsbedingungen jedenfalls), so wie es in unserer Landwirtschaft und Baubranche ja auch der Fall ist.

Man muss dazu allerdings auch sagen: Briten nehmen Schengen noch mal anders wahr als wir Kontinentaleuropäer, da sie beim Verlassen und Betreten ihres Landes trotzdem immer den Pass vorzeigen müssen (Flughafen, Fähre, soweit ich weiß auch beim Eurotunnel). Das ist nicht ganz die gleiche Erleichterung wie bei einem Grenzübertritt zwischen Deutschland und Frankreich, wo ich 1998 noch meinen damals brandneuen Personalausweis zeigen durfte. Dieses unbeschwerte Reisegefühl stellt sich für Briten erst ein, wenn sie „auf dem Kontinent“ unterwegs sind. Trotzdem profitieren sicher auch sehr viele Briten davon, in den anderen europäischen Ländern stressfrei leben und arbeiten zu können. Sehr schön hat das der britische Autor Alastair Reynolds beschrieben, dessen erster Roman während einer kurzen Zeit der Arbeitslosigkeit in den Niederlanden beendet und veröffentlicht wurde. In einem der Brennpunkte der ÖR wurde allein für Deutschland die Zahl von 100.000 hier lebenden Briten genannt. Auf ganz Europa gerechnet kommen da schon einige zusammen. Für uns war der Umzug nach Wales damals jedenfalls wie „Ausland für Anfänger“. Man meldet sich beim Council an und zahlt seine Council Tax sowie die TV Licence. Das war’s. Wenn man möchte, kann man sich ins Wahlregister aufnehmen lassen, um an Kommunalwahlen teilzunehmen, aber mehr Fragen sind erst mal nicht zu klären. Das war sehr befreiend!

Wie geht es nun weiter für UK? Ich denke, David Cameron hat ein sowieso schon relativ gespaltenes Land ohne Not in eine noch größere Spaltung manövriert. Wieso würde man ein Referendum abhalten, wenn man nicht sicher ist, dass man 75% der Stimmen in der einen oder anderen Richtung bekommt? Und wieso wird bei einer solch wichtigen Frage, die potentiell so immense Kosten nach sich ziehen kann, nicht ein Quorum gesetzt? Sollten so etwas 70% der Wahlberechtigten entscheiden können? Und wenn nur 60% abgestimmt hätten? Nun hat man eine Spaltung der Bevölkerung fast halbe-halbe bei einer Frage, bei der sich keine Mittelwege anbieten. Zumindest hätte man für einen Mittelweg die Sache ganz anders angehen müssen, nämlich indem man z.B. einen Reformprozess innerhalb Europas anstößt bei den Fragen, die der britischen Bevölkerung wichtig sind. Vielleicht machen die Briten das jetzt im Nachhinein auch, aber der Glaubwürdigkeit der Politik schadet so ein Vorgehen sicher enorm.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Bitte beachte die Kommentarregeln: 1) Kein Spam, und bitte höflich bleiben. 2) Ins Namensfeld gehört ein Name. Gerne ein Pseudonym, aber bitte keine Keywords. 3) Keine kommerziellen Links, außer es hat Bezug zum Beitrag. mehr Details...

So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)