Heute will ich mal von einem besonderen Fund im Rahmen meines Hobbys Familienforschung berichten. Ich habe in den Fotoalben meines Vaters immer mal wieder Postkarten gefunden, z.B. von meinen Urgroßmüttern. Meist steht jedoch nichts spannendes drauf, es geht viel um Geburtstagsgeschenke und wer wen grüßen lässt. Deswegen habe ich die bisher auch nicht systematisch abfotografiert und Transkripte erstellt. Durch Zufall fiel mir die Tage jedoch ein Briefumschlag in die Hände, beschriftet mit „einziger langer Brief von Tante Paula, 17.2.64″. Und ich bin froh, dass ich reingeschaut habe!
Tante Paula war eigentlich die Großtante meines Vaters und ist 1921 nach Brasilien ausgewandert. An ihr hängt letztlich unsere Verwandtschaft in Brasilien, was sie unter der Vielzahl der Vorfahren schon besonders macht. Ok, technisch gesehen stamme ich nicht von ihr ab, sondern von ihrer Schwester, aber ich erfasse immer alle Geschwister. Nur so kann man ja die Geschichte dieser Generation verstehen, wenn man auch das familiäre Umfeld betrachtet. In meinem Stammbaum hatte ich jedenfalls bisher zu ihr nur die Daten, die ich aus dem Deutschen Geschlechterbuch abgeschrieben habe, sowie ein Kleinkinder- und ein Erwachsenen-Foto.
Der Brief fing mit dem üblichen an, Danke für dies, Grüße von jenem. Dann gingen Paula aber etwas die Themen aus, und deswegen schrieb sie:
Was ich Dir schreiben soll, weiß ich eigentlich nicht, da ich doch dasselbe mit Tante Brigitte erlebe, darum habe ich mir ausgedacht Dir nacheinander etwas über meine Reisen zu berichten.
Und das tut sie dann auch. Auf zwei eng beschriebenen Schreibmaschinen-Seiten beschreibt sie ihre Reisen in der alten Heimat, die Wanderreise durch Schweden 1914 und die Aufenthalte im Sudetenland. 1921 wanderte sie mit ihrem Mann nach Brasilien aus:
Ein Freund, der früher in Australien war, ging nach Brasilien und durch den kamen wir dann nach hier. Die Reise machten wir auf einem wunderbaren holländischen Überseer, die einzige Verbindung damals, so was Wunderbares! Schon Amsterdam war ein Wunder mit diesem Hotel, der Eleganz, als wir aus dem hungernden Deutschland kamen.
Zum einen geben die vielen Details nun Anhaltspunkte, wo es sich nach weiteren Spuren zu suchen lohnt. Zum anderen ist es einfach toll, so viele Schilderungen aus erster Hand unverhofft zu finden. Hier erfährt man, wie sie in Brasilien ankamen, wie der Alltag aussah, wie sie mit dem ungewohnten Wetter klarkamen. Auch wie das mit dem Leben in einem fremden Land ganz praktisch aussah:
Die 3 Südstaaten waren kerndeutsch und man erlernte schwer die Landessprache. Wollte man sich üben und forderte im Laden mit schlechtem Portugiesisch was, so machte man sich nicht
die Mühe Portugiesisch zu antworten, sondern die Antwort kam in Deutsch. Natürlich war das die Stadt, mein Mann der aus dem Staat Patienten hatte, musste sehr fleißig sich bemühen. Wir hatten nur deutschen Verkehr, unseren Skat- und Kegelabend und waren eine vergnügte Runde.
Ich habe mich über die vielen Schilderungen wirklich gefreut. Ähnlich wie bei meinem Urgroßvater Ludwig, in dessen Kriegsbriefe ich mich vor einiger Zeit vertieft hatte, habe ich bei Großtante Paula nun etwas das Gefühl sie zu kennen. Ein bisschen bleibt nun erhalten, wer sie als Mensch war und was sie in ihrem Leben erlebt hat. Und das ist ja einer der Gedanken bei der Ahnenforschung: Nicht einen Stammbaum bis zu Karl dem Großen zusammenzufabulieren, sondern zu bewahren, wer die tatsächlichen Vorfahren als Menschen waren.