Ruhe in Frieden

Mein Leben begann wie das eines ganz normalen Schiffes – in einer Werft. Ich habe nicht mehr viele Erinnerungen an diese Zeit, aber ich glaube, mein Zusammenbau dauerte ziemlich lange, ich war ja auch viel größer als die anderen Schiffe der Werft. Dass ich anders war als der Rest der Schiffe, erfuhr ich mit der Zeit aus den Gesprächen der Dockarbeiter. Ja, ich war anders, ich war etwas völlig neues, denn ich war unsinkbar. Warum das so war, habe ich aber nicht erfahren. Einige Arbeiter murmelten etwas von speziellen Kammern in meinem Rumpf, oder so, aber die meisten wussten es wohl selber nicht.

Anfangs überkam mich ein richtiges Hochgefühl, ich war das erste unsinkbare Schiff der Welt. Doch in den ruhigen Tagen, als nur noch meine Inneneinrichtung vervollständigt wurde, da machte ich mir schon meine Gedanken, wie es denn sein kann, dass ein Schiff unsinkbar sein soll. Schließlich war ich doch von den gleichen Leuten gebaut worden, die auch alle anderen Schiffe gebaut hatten, von denen ab und zu eins unterging. Ich war auch aus dem gleichen Material.

Doch als ich dann aus der Werft nach Southampton, meinem eigentlichen Heimathafen, gebracht wurde, vergaß ich solche Gedanken ganz schnell. Ich ging tatsächlich nicht unter, also hatten die Menschen wohl recht.

Ich wurde auf den Namen TITANIC getauft, mit Menschen beladen und dann begann die große Fahrt. Ich war schrecklich aufgeregt, meine erste Fahrt über den Ozean. Leider sollte es auch meine letzte Fahrt sein.

Es war Mitte April 1912, immer noch auf meiner Jungfernfahrt und mitten auf dem weiten Ozean, da riss mir ein Eisberg plötzlich ein Loch in die Seite. Den Schmerz spürte ich kaum, doch ich hatte schreckliche Angst. Würde ich jetzt untergehen? War das die Rache des Universums für die blasphemische Behauptung, ich sei unsinkbar? Es war qualvoll, mein Tod dauerte mehrere Stunden.

Als ich wieder erwachte, war es dunkel um mich herum, und so entsetzlich trocken. Ich spürte meinen Körper nicht mehr und mir wurde mitgeteilt, ich sei hier im Jenseits, Abteilung für gesunkene Schiffe. Es dauerte einige Zeit, aber ich habe mich ganz gut eingelebt. Ich war ja auch nicht allein, es gab noch viele andere Schiffe. Und es kamen auch immer wieder neue Schiffe hinzu, manchmal sogar ziemlich viele auf einmal.

Manchmal besuchte ich meinen alten Körper, er liegt noch immer auf dem Meeresgrund, aber er ist vor Muscheln und Tang schon nicht mehr wiederzuerkennen.

Bei einem meiner Besuche habe ich dort Taucher gesehen, die in meinem verrotteten Leichnam herumkletterten. Leider hatte ich keine Möglichkeit, sie zu verscheuchen, also habe ich mich in aller Stille zurückgezogen.

Bis vor einigen Wochen sah es so aus, als würde sich an meinem Zustand nichts mehr ändern. Doch dann kam wieder ein neues Schiff an. Es erzählte mir, dass es jetzt einen Film über mein tragisches Leben gibt. „Der Film lief in meinem Bordkino rund um die Uhr“, berichtete das Kreuzfahrtschiff. „Am Anfang habe ich ja versucht, ihn zu ignorieren. Es ist für ein Schiff nicht gerade schön, ständig an den Untergang zu denken. Schließlich wurde ich total nervös, ich war mit den Nerven völlig fertig. Und das Ende vom Lied ist, dass ich mit einem anderen Schiff kollidierte und unterging.“

Kaum hatte ich die Nachricht verdaut, dass ich auf der Erde jetzt so etwas wie eine Berühmtheit war, da wurde ich aufgefordert, mich im Büro für Reinkarnation zu melden. Man teilte mir mit, dass man wahrscheinlich eine neue Stelle für mich hätte. Die Menschen hätten vor, meinen ursprünglichen Körper nachzubauen. Im Moment würden sie sich nur noch streiten, wer diese Mischung aus Klonen und Exhumieren, die nebenbei ein riesiges Geschäft ist, wie mir mein Sachbearbeiter mitteilte, durchführen sollte.

„Werde ich wieder unsinkbar sein?“ fragte ich. „Wahrscheinlich nicht. Die Menschen sind von solchem Blödsinn eigentlich abgekommen“, erwiderte mein Sachbearbeiter. Ich wusste nicht so recht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht, denn es gefiel mir hier im Jenseits ganz gut. Der Gedanke, wieder auf die Erde zu müssen, noch einmal gebaut zu werden und Menschen über den Ozean zu tragen, bis ich eines Tages wieder untergehen würde, dieser Gedanke ist nicht gerade angenehm. Ich habe mich halt an die Bequemlichkeit des Totseins gewöhnt.

Seitdem sind schon einige Wochen vergangen und ich habe von meinem Sachbearbeiter noch nichts neues gehört. Ich hoffe aber, dass das Projekt eingestellt wurde.

Lasst mich doch einfach in Frieden ruhen.

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)