Kumpelstilzchen

Es war einmal ein Bergmann, der war arm, hatte aber eine schöne Tochter. Nun traf es sich, dass er mit seinen Kollegen in der Kantine saß, und weil er schon ein paar Bier intus hatte, sagte er zu ihnen: „Meine Tochter ist Chemikerin. Die könnte alles, was wir aus dem Bergwerk rausholen, in Gold verwandeln.“

Es begab sich aber, dass am Nebentisch der Manager des Bergwerkkonzerns saß und alles hörte. Bei diesen Worten aber schlug sein Herz höher, denn er dachte daran, wie er sich vorige Woche an der Börse verspekuliert hatte, und dass das verlorene Geld aus der Firmenkasse stammte. So sagte der Manager zu dem Bergmann: „Das ist eine Kunst, die mir wohl gefällt. Wenn du deine Arbeit behalten möchtest, bring deine Tochter morgen Abend hierher, da will ich sie auf die Probe stellen.“

Als nun das Mädchen zu ihm gebracht ward, führte er sie in einen Bergwerksstollen, gab ihr eine Lampe und einen Helm und sprach: „Jetzt mach dich an die Arbeit, und wenn du morgen früh nicht den Inhalt dieses Wagens in Gold verwandelt hast, so musst du sterben.“

Daraufhin stieß er sie weiter in den Stollen hinein und verschloss den Eingang hinter ihr mit Brettern. Als sie sich umblickte, stellte sie fest, dass sie in einem Salzbergwerk gelandet war, denn vor ihr stand ein großer Wagen, der bis oben hin mit Salzklumpen beladen war.

Da saß nun das arme Mädchen und wusste sich keinen Rat. Sie war nämlich Lebensmittelchemikerin und hatte nicht die geringste Ahnung, wie man Natriumchlorid in Gold verwandeln sollte, allerdings hatte sie leichte Zweifel, ob das überhaupt möglich sei. Als sie die erste Ratte durch den Lichtschein ihrer Lampe huschen sah, ward ihre Angst immer größer und schließlich fing sie an zu weinen.

Da trat auf einmal ein kleines Männchen aus einem Seitenstollen heraus und sprach: „Guten Abend, warum weinst du so sehr?“

„Ach“, antwortete das Mädchen, „ich soll dieses Salz in Gold verwandeln und weiß nicht wie.“

„Was gibst du mir, wenn ich die Aufgabe für dich erledige?“ fragte das Männchen lauernd.

„Meine Visa-Karte“, sagte das Mädchen, dessen Name übrigens Jasmin war, wohlwissend, dass auf ihrem Konto keine zehn Euro mehr drauf waren. Das Männchen nahm die Visa-Karte mit glänzenden Augen entgegen, steckte sie ein und verschwand dann in dem Seitenstollen, um eine umfangreiche alchemistische Ausrüstung herbei zu schaffen. Dann begann es, das Salz in große Reagenzgläser zu füllen, und ein durchdringender Methangeruch breitete sich in dem Stollen aus. Das Mädchen wurde davon todmüde und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf, als jemand die Bretter vor dem Eingang lautstark entfernte.

Das Männchen war verschwunden, der Wagen aber war bis oben hin mit Gold beladen. Als der Manager das sah, freute er sich sehr, aber er dachte an die Hypothek, die auf seiner bescheidenen Villa lastete. Und so drohte er dem Mädchen wieder mit dem Tod, versprach ihr aber andererseits ein besseres Gehalt für ihren Vater, wenn sie in der nächsten Nacht dieses Wunder wiederholen würde.

Und als es Abend wurde, da ließ er sie in ein anderes Bergwerk bringen und verschloss wieder den Stollen hinter ihr. Im Schein ihrer Lampe konnte sie sehen, dass zwei große Wagen bis oben hin mit Schwefelklumpen beladen waren, denn der Bergwerkskonzern war auch ein Zulieferer für eine Streichholzfabrik.

Da Jasmin in der vergangenen Nacht aber geschlafen hatte, wusste sie nun nicht, wie das Männchen es geschafft hatte, dass Salz in Gold zu verwandeln, und so setzte sie sich hin und weinte bitterlich.

Doch da trat abermals das Männchen aus einem Seitenstollen hervor und sprach: „Was gibst du mir, wenn ich den Schwefel für dich in Gold verwandele?“

„Meine Lesebrille, die war sauteuer. Du kannst sie mit Profit weiterverkaufen.“ Das Männchen war mit diesem Angebot zufrieden. Jasmin entfernte unauffällig das Fielmann-Brillenputztuch aus dem Etui, ehe sie die Brille dem Männchen reichte. Dieses aber machte sich sofort daran, die Schwefelklumpen in Gold zu verwandeln. Das Mädchen sah eine Weile zu, doch der durchdringende Schwefelgeruch machte sie müde, und sie schlief ein.

Als sie erwachte, war das Männchen schon verschwunden, die beiden Wagen aber waren bis oben hin mit Gold beladen. Als das der Manager sah, freute er sich sehr, dachte aber auch an seine Zukunft, die er auf einer kleinen Yacht zu verbringen gedachte. Er ließ das Mädchen in ein weiteres Bergwerk führen, und sprach: „Gelingt es dir, die Kohle auf diesen fünf Wagen in Diamanten zu verwandeln, so sollst du meinen Sohn zum Mann kriegen. Gelingt es dir aber nicht, so bist du des Todes.“ Damit ließ er sie in dem Bergwerk allein und versperrte den Eingang hinter ihr.

Kurz darauf kam das Männchen wieder und fragte: „Was gibst du mir, wenn ich dir heute Nacht noch einmal helfe?“

„Ich habe nichts mehr, das ich dir geben könnte“, erwiderte das Mädchen traurig.

„So versprich mir, wenn du verheiratet bist, dein erstes Kind.“

Die Bergmannstochter dachte daran, dass sie die Pille nahm, und an den Sohn des Managers, den sie kannte und den sie unbedingt haben wollte, also versprach sie dem Männchen, was es verlangte. Das Männchen aber schaffte viele Gewichte herbei, die es auf die Kohle stellte, dann fing es an, auf den Kohlewagen herumzutanzen, und Jasmin wurde durch das Zusehen so müde, dass sie einschlief. Am anderen Morgen wurde sie durch den Manager geweckt, der vor Freude total ausrastete, als er die fünf Wagen voll mit Diamanten sah.

Er nahm Jasmin mit in seine Villa, und kurz darauf heiratete sie seinen Sohn. Der Pfarrer fragte sich die ganze Zeremonie hindurch, woher die beiden jungen Leute wohl das Geld hatten, um die Diamantsplitter auf den Eheringen zu bezahlen.

Es vergingen keine sieben Monate, da brachte die frisch gebackene Ehefrau ein Kind zur Welt. Eines Tages saß die junge Mutter gerade zu Hause und fragte sich, ob auf der Schachtel mit ihren Pillen schon immer ‚Aspirin‘ gestanden hatte, da trat plötzlich das Männchen, an welches sie überhaupt nicht mehr gedacht hatte, durch die Terrassentür und sprach: „Ich bin gekommen, um zu holen, was du mir versprochen hast.“

Jasmin erschrak ganz fürchterlich und bot dem Männchen alle Sparbücher ihres Schwiegervaters an, wenn es ihr nur das Kind lassen wolle. Doch das Männchen sagte: „Nein, etwas Lebendes ist mir lieber als alles Geld. Ich habe nämlich Hunger.“ Kaum hatte es das gesagt, da brach sie weinend und schreiend zusammen.

Da bekam das Männchen Mitleid. „War nur ‚n Scherz“, meinte es schnell. Und dann schlug es ihr ein Geschäft vor: „Drei Tage will ich dir Zeit lassen. Wenn du bis dahin meinen Namen weißt, sollst du dein Kind behalten.“

Nun besann sich Jasmin die ganze Nacht über auf alle Namen, die sie je gehört hatte, und sie engagierte auch einen Privatdetektiv, der alles über das Männchen herausfinden sollte. Als am anderen Tag das Männchen kam, fing sie an mit Lagerfeld, Versace, Gates, und sagte der Reihe nach alle Namen auf, die sie wusste, aber bei jedem sprach das Männchen: „So heiß ich bestimmt nicht.“

Am zweiten Tag suchte sie sich aus dem Internet die ungewöhnlichsten Namen heraus. „Heißest du vielleicht Tautmo Aagenfeldt? Oder Galbraith Deighton? Vielleicht Jean-Luc Picard?“

Doch das Männchen antwortete immer nur: „Nicht dass ich wüsste.“

Am dritten Tag kam der Privatdetektiv endlich zurück und erzählte: „Ich habe den Typen zwei Tage lang beschattet. Anscheinend ist er ein ehemaliger Angestellter Eures Schwiegervaters. Bei ihm ist aber eine Schraube locker. Vorgestern ist er in den Wald gefahren. Da hackte er wie wild Holz entzwei und sang:

„Heute hack‘ ich, morgen bau‘ ich,
übermorgen hol‘ ich mir das Kind;
ach, wie gut, dass ich selbst nicht weiß,
wie ich eigentlich heiß‘.“

Jasmin überlegte ein Weilchen, dann führte sie einige Telefonate mit verschiedenen Ärzten und holte sich eine Akte aus dem Firmencomputer ihres Schwiegervaters.

Als kurz darauf das Männchen eintrat und fragte: „Nun, wie heiß ich wohl?“, fragte sie erst: „Heißest du vielleicht Kunz?“

„Nicht dass ich wüsste“, antwortete das Männchen.

„Heißest du vielleicht Hinz?“

„Nicht dass ich wüsste“, sagte das Männchen wieder.

„Du bist sicher, dass du nicht Hinz heißt?“ fragte sie noch einmal, mit einem Blick auf die vor ihr liegende Akte.

„Äh…ja, ziemlich“, antwortete das Männchen.

„Nun gut, ich gebe mich geschlagen“, seufzte Jasmin. „Hier ist der Adoptionsvertrag. Du musst nur noch mit deinem Namen unterschreiben.“

Das Männchen, das schon angefangen hatte, fröhlich herumzutanzen, hielt wie vom Donner gerührt inne. „Äh, unterschreiben???“ fragte es unsicher. Als die Bergmannstochter nickte, fing es an, in seinen Taschen nach einem Kugelschreiber zu wühlen und murmelte dabei vor sich hin: „Ja, wie heiß ich denn? Heiße ich vielleicht Kunz? Oder Hinz? Oder vielleicht gar Mr. Spock?…“ Es fand endlich einen Kuli und fragte vorsichtig. „Reicht es, wenn ich drei Kreuze mache?“

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und zwei Männer in weißen Kitteln kamen herein. „Vielen Dank, dass Sie uns gerufen haben. Den Kerl suchen wir schon lange. Die Bergwerksluft ist ihm wohl nicht bekommen, jedenfalls ist bei ihm ’ne Schraube locker.“

Während er das sagte, packte der Arzt das Männchen, steckte es zusammen mit seinem Kollegen in eine weiße Jacke und zerrte es aus dem Raum. Jasmin hörte noch die leiser werdenden Stimmen der drei.

„He, Jungs! Ist euch schon mal aufgefallen, dass die Ärmel dieser Jacke auf dem Rücken zugenäht sind?“ fragte das Männchen.

„Das ist immer so bei Zwangsjacken“, antwortete einer der Männer.

„Das hat euch der Teufel gesagt!“ kreischte das Männchen los. Und dann kam noch einmal das dünne Stimmchen des Männchens: „Könntet ihr mich mal kurz aus der Jacke rauslassen? Irgendetwas sagt mir, dass ich mir jetzt eigentlich ein Bein ausreißen müsste!“ bevor das Zuschlagen der Haustür das Gespräch beendete.

ENDE

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)