Abschied

Zeit: 1290 NGZ (4877 n.Chr.)

In der Mittagszeit war immer besonders viel los in dieser Zone des Jefferson Towers. Im 27. Stock des riesigen Wohnturms gab es eine Art Einkaufsstraße, mit vielen Geschäften und Restaurants. Alisha verließ den Hauptantigravlift und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen. Sie war eine gutaussehende Frau von 35 Jahren und arbeitete in der Werbeabteilung eines großen Reisebüros, unten im zweiten Stock. Zum Mittagessen kam sie immer hierher zu ihrem Lieblingsrestaurant, dem „Golden Flame“. Es gehörte einem alten Unither, und sie mochte die würzige Note des unithischen Essens.

Sie setzte sich an ihren Lieblingstisch, nahe dem großen Fenster, durch das sie die fast 100 Meter tiefer gelegene Straße beobachten konnte, all die kleinen Menschen und die Gleiter.

Nachdem sie eine Viertelstunde gewartet hatte, sah sie verwundert auf die Uhr. Seit fast vier Jahren aßen sie mittags gemeinsam und er hatte sich bisher nicht ein einziges Mal verspätet. Sie entschloss sich, ihr Essen schon zu bestellen und wandte sich an den Tischservo: „Ich hätte gern ein Hasperath mit Tulabeeren.“

Fünf Minuten später, als ihr gerade das Essen serviert wurde, sah sie plötzlich wie er sich durch die Menge drängelte. Als er das Restaurant betreten hatte, ging er langsamer und setzte sich schließlich an ihren Tisch. Er war hochgewachsen und hatte eine samtbraune Haut. In seinem schwarzen Haar war eine Strähne blau gefärbt, das Zeichen der Familie Likari und darüber hinaus groß in Mode auf Akon.

„Ist etwas passiert?“ fragte Alisha. „Du hast dich doch noch nie verspätet.“

Satur von Likari nickte langsam, eine Geste, die er sich hier auf Terra angewöhnt hatte. Er sah älter aus als Alisha, aber er hatte nie über sein Alter gesprochen. Sie hatte ihn vor vier Jahren in diesem Restaurant kennengelernt, in dem er wie sie jeden Tag seine Mittagspause verbrachte. Soweit sie wusste, arbeitete er für eine Gesellschaft, die sich die Erforschung des lemurischen Erbes zum Ziel gesetzt hatte. Satur hatte schon auf Akon auf diesem Gebiet viel geleistet und war schließlich von der terranischen Gesellschaft angeworben worden.

Satur deutete wortlos auf den großen Tri-Video-Schirm, der über der Bar hing. Es war eine Nachrichtensendung auf dem offiziellen LFT-Kanal, sie brachte erste Berichte von der Front. Alisha sah stumm auf den Schirm, wo gerade eine Schleusenkammer zu sehen war. Das Bild wackelte stark, und schließlich erkannte Alisha, dass die Kamera in einen Raumanzug eingebaut war. Der Timecode in der rechten Ecke zeigte, dass die Aufnahmen von gestern stammten. Der Träger des Anzugs öffnete die Schleuse hastig und stieß sich ab. Sie konnte für einen kurzen Augenblick seine Füße sehen, dann wirbelte ein schwer beschädigter Schlachtkreuzer der LFT durchs Bild, von dem sich unzählige Rettungsboote und Menschen in Raumanzügen lösten. Eine halbe Minute später hatte sich der Flug des Anzugs stabilisiert, der Kreuzer der LFT geriet wieder ins Blickfeld, und Alisha konnte gerade noch sehen wie er sich plötzlich aufblähte und explodierte, wobei er alle, die sich nicht weit genug entfernt hatten, mit ins Verderben riss. Das Bild wechselte, es war jetzt ein Studio mit mehreren Sprechern der LFT zu sehen.

„Als ich vorgestern die ersten Nachrichten hörte, wollte ich es nicht glauben“, sagte Alisha bedrückt. „Es tut mir wirklich leid, dass es soweit gekommen ist. „

„Es ist der reinste Wahnsinn. Wir sind ein Volk, wir alle sind aus den Lemurern hervorgegangen“, meinte Satur leise. Dann straffte er sich und blickte Alisha an. „Der eigentliche Grund für meine Verspätung ist aber das hier“, meinte er, holte eine Schreibfolie aus der Tasche und reichte sie ihr. Alisha sah das offizielle Siegel der LFT-Einwanderungsbehörde, der Brief war an Satur von Likari adressiert. Sie las ihn leise durch und blickte Satur dann entsetzt an. „Aber das können sie doch nicht machen! Sie können doch nicht einfach deine Aufenthaltsgenehmigung widerrufen. „

„Doch, das können sie, du hast es doch gelesen. Laut Paragraph 53 der LFT-Charta ist es Angehörigen eines Volkes, mit dem sich die Liga Freier Terraner im Krieg befindet, nicht gestattet, sich auf dem Territorium der LFT aufzuhalten. Die Behörde war so freundlich, mir schon einen Flug zu buchen, das Schiff startet in fünf Stunden. Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden. „

„Aber der Krieg ist sicher bald vorbei. Wenn sie dich jetzt ausweisen, stören sie doch deine Arbeit. „

„Ich könnte ein Saboteur des Energiekommandos sein“, meinte Satur mit einem bitteren Lächeln. „Nein, es ist sicher besser so. Wer weiß, wenn der Krieg andauert, könnte es für einen Akonen hier bald ungemütlich werden.“ Satur stand auf, und Alisha erhob sich ebenfalls. Er reichte ihr die Hand und meinte: „Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Ich würde es mir wünschen, du hast meinen Aufenthalt hier wesentlich angenehmer gemacht.“ Alisha ergriff seine Hand, dann umarmte sie ihn. Nach einiger Zeit löste er sich aus der Umarmung. „Bete zum Autorion, dass es diesen Krieg bald beendet!“ sage er leise, dann ging er.

Sie setzte sich wieder und beobachtete, wie Satur in dem Menschenstrom vor der Tür des Restaurants verschwand. Ihr Blick glitt über das unberührte Hasperath auf ihrem Teller, dann sah sie aus dem Fenster. Von hier aus konnte sie sogar die Dolan-Gedenkstätte sehen. Der Krieg gegen die Schwingungswächter war schon so unvorstellbar lange her, dass sie sich wenig darunter vorstellen konnte. Aber sie wusste, dass die Menschen, deren Namen dort unten an den schwarzen Granitblöcken standen, bei der Verteidigung der Erde gestorben waren. Doch wofür starben die Besatzungen der LFT-Schiffe heute? Die wahren Gründe für den Krieg kannte sie nicht, aber Alisha war sich sicher, dass niemand ihn wollte, sie nicht, Satur nicht und auch die Besatzungen der Schiffe nicht.

Ihr Blick löste sich von der Gedenkstätte, glitt weiter nach Osten. Hinter dem brachliegenden Gelände, das mit dem Faktorelement nach Terrania gekommen war, konnte sie den kleinen akonischen Tempel sehen, der den Göttern des Autorions geweiht war. Satur hatte ihr von dieser alten akonischen Religion erzählt. ‚Vielleicht gibt es ja wirklich eine höhere Kraft, die diesen Krieg ohne den Willen der Beteiligten angezettelt hat‘, dachte Alisha. Sie wusste es einfach nicht. Sie wusste nur, dass ihr das gemeinsame Mittagessen fehlen würde, dass ihr Satur fehlen würde. Langsam stand sie auf und verließ das Restaurant. In nächster Zeit würde sie nicht mehr hierher kommen.

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So, noch mal kurz drüber schauen und dann nichts wie ab damit. Vielen Dank fürs Kommentieren! :-)